2. Woche: Weisheit und Mitgefühl
Alex Trisoglio, 14. Juni 2017
Übersetzt von Ulrike Bernauer
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Guten Abend an alle und willkommen zur zweiten Woche. Wir werden heute den Schwerpunkt vor allem auf die ersten fünf Bhumis setzen und uns auf das Abenteuer vorbereiten, auf das wir uns in der nächsten Woche mit Kapitel 6 einlassen. Der Schwerpunkt in dieser Woche ist, den Zusammenhang zwischen Sichtweise und Bodhicitta bzw. Mitgefühl , und besonders den Paramitas – solchen Qualitäten wie Großzügigkeit, Geduld und Disziplin, die wir auf dem Pfad praktizieren und kultivieren wollen, zu verstehen.
Ich möchte damit beginnen, diese Belehrungen in den Rahmen einer Abenteuergeschichte einbetten, was vielleicht ein bisschen sonderbar erscheinen mag. Aber wenn ihr die Geschichte von den 10 Ochsen betrachtet, über die wir in der vergangenen Woche gesprochen haben: die Entfaltung dieser 10 Phasen folgt derselben mythischen Struktur wie Joseph Campbells Heldenfahrt. Oder auch wie die Lebensgeschichte des Buddha, die klassische Geschichte. Und für die von Euch, die Kinofilme mögen: das klassischste Beispiel ist vielleicht Star Wars, wo George Lucas sich an Campbell anlehnt, um den Film vergleichbar zu den unterschiedlichen Phasen der „Heldenreise“ zu strukturieren.
Die Heldenreise ist ganz klassisch wie die alten griechischen Stücke in drei Akte unterteilt.
- 1. Akt: das ist die Exposition oder Situation, die gewöhnliche Welt, in der wir starten. Und dann passiert etwas. Es gibt ein bestimmtes Problem zu lösen, eine Handlung ist erforderlich. Für uns würde das bedeuten, dass wir in unserem gewöhnlichen samsarischen Leben starten und dann den Dharma-Pfad entdecken, die Möglichkeit entdecken, Nichtdualität und Leerheit zu verstehen, Erleuchtung zu erlangen.
- 2. Akt: An einem bestimmten Punkt beschließt der Held oder die Heldin, diesen Weg einzuschlagen, was uns zum zweiten Akt bringt, in dem es darum geht, all die Probleme zu lösen, die im ersten Akt dargelegt wurden. Meistens findet das in einer fremden und unvertrauten Umgebung statt. Nicht in der gewöhnlichen Welt, sondern in einer Art mythischen Welt.
- 3. Akt: der dritte Akt schließlich bringt die Lösung, indem der Held oder die Heldin in die gewöhnliche Welt zurückkehrt und eine Art Geschenk oder ein Elixir oder eine neue Macht bzw. Ermächtigung mitbringt, etwas, das der Welt einen Nutzen bringt.
Abfahrt auf dem Abenteuer
Genauso sieht auch der Ablauf bei den 10 Ochsen aus, wenn ihr diese Zusammenstellung aus Bildern und Gedichten verfolgt. Und es ist auch verwandt mit der klassischen Zen-Geschichte Berg/Kein Berg/Berg, dem berühmten Ausspruch von Ch’ing-yüan Wei-hsin (青原惟信, Japanisch: Seigen Ishin), einem Zen-Meister der Tang Dynastie (9. Jh.). Er sagte:
Bevor ich dreißig Jahre lang Zen studiert habe, habe ich Berge als Berge und Wasser als Wasser angesehen. Ich kam zu einem Punkt, an dem ich sah, dass Berge keine Berge sind und dass Wasser nicht Wasser ist. Aber nun habe ich die Essenz erfasst und bin zur Ruhe gekommen. Und wieder sehe ich Berge als Berge und Wasser als Wasser.
Das ist also so eine Art Rundreise, bei der wir starten, indem wir die Welt in einer bestimmten Art und Weise sehen. Wir begeben uns dann auf eine Reise und kommen dann in unsere ursprüngliche Welt zurück, sehen sie nun aber mit anderen Augen. Und so ähnlich machen wir es auch hier. Diese Art des Verstehens trifft den Kernpunkt der Zwei Wahrheiten, und Belehrungen wie das Herz-Sutra „Form ist Leerheit, Leerheit ist Form“, dazu werden wir aber erst in der 5. und 6. Woche kommen, ich wollte das nur jetzt schon einmal erwähnen.
Doch zurück dahin, wo wir genau jetzt sind: noch sind wir im ersten Akt, und im Moment befinden wir uns in der zweiten Szene.
- Akt I, Szene 1: das war der Aufruf zum Abenteuer, der in der letzten Woche an uns erging. Zu erkennen, dass die Sichtweise wichtig ist und dass es für uns lohnenswert ist, die rechte Sichtweise zu kultivieren.
- Akt I, Szene 2: hier beginnt sich nun der Held wirklich zu fragen, ob er diese Reise auf sich nehmen will. Die Frage könnte davon abhängen, ob er andere Aufgaben, Verpflichtungen hat. Vielleicht ist er zu beschäftigt und hat nicht genügend Zeit. Vielleicht ist ihm die Herausforderung zu groß, zu schwierig, zu akademisch oder steht nicht in Zusammenhang mit seinen täglichen Sorgen. Oder aber er hat das Gefühl, dass er bereits auf dem Pfad vorangekommen ist. Oder wir haben das Gefühl, dass wir ohnehin schon praktizieren: Achtsamkeit, Bodhicitta oder auch eine andere Praxis. Oder aber wir haben das Gefühl, wir brauchen diese Sichtweise der Leerheit nicht, weil wir bereits haben, was wir brauchen. Für diejenigen von Euch, die das Diskussionsforum verfolgen: dort gibt es eine interessante Konversation darüber, wie man Emotionen und Emotionalität als Pfad nutzen kann und ich denke, das könnte hiermit in Zusammenhang stehen.
Nichtsdestotrotz vernehmen wir immer noch den Ruf des Abenteuers. Wollen wir uns auf den „Mittleren Weg“ begeben ? Wollen wir unsere Praxis eine Ebene weiterbringen ? Das ist etwas, worüber wir nachdenken können. Und sind wir bereit, das zu tun ? Und vielleicht bemerken wir da einen gewissen inneren Widerstand. Es könnte sein, dass wir das Ganze ein bisschen zu anspruchsvoll und schwierig finden, oder wir denken, dass wir das nicht wollen. Um zurück auf Campbell zu kommen: das ist ein normaler Teil der Heldenreise oder Heldinnenreise, und an einem gewissen Punkt müssen wir uns mit diesem Widerstand konfrontieren und ihn überwinden, um uns wirklich auf die Reise begeben zu können. In diesem Fall werden wir in der dritten Woche so richtig in die Sichtweise eintauchen, uns in diese seltsame andere Welt begeben, in der wir einen Berg nicht länger als Berg ansehen und stattdessen damit beginnen, die Dinge zu zerlegen und auseinanderzunehmen. Wir werden mit dem Beginn der nächsten Woche sehr viel davon tun.
Wie kann ich feststellen, was wahr und falsch ist?
Wie ich es auch schon in der letzten Woche getan habe, möchte ich gerne die entsprechenden Verse aus den 10 Ochsen zitieren. Hier die Verse zum zweiten Ochsenbild.
2. Die Fußspuren erkennen
Entlang dem Fluss und unter den Bäumen entdecke ich Fußspuren!Sogar unter dem Farn sehe ich seine Fußspuren.
Tief in abgelegenen Bergen sind sie zu finden.
Diese Spuren können ebenso wenig verborgen bleiben, wie die Nase von einem, der himmelwärts blickt.
Kommentar: Indem ich die Belehrungen verstehe, sehe ich die Fußspuren des Ochsen. Dann erkenne ich, dass eine immense Anzahl von Objekten durch das Selbst konstruiert wird– genauso wie viele verschiedene Werkzeuge aus einem einzigen Metall gemacht werden. Wenn ich nicht unterscheiden kann, wie kann ich dann Wahres und Falsches erkennen ? Ich bin noch nicht durch das Tor getreten, aber ich habe den Pfad erkannt.
Ich denke diese Frage, die Vorstellung, wie man feststellen kann, was wahr und falsch ist, ist eine sehr wichtige Frage für uns, ganz besonders, wenn es um unsere Praxis geht. Das ist etwas, worüber wir heute sehr viel sprechen werden. Wie sollten wir praktizieren ? Welche Art Anleitung haben wir ? Wie beeinflusst die Sichtweise die Praxis ? Wir werden darauf auch noch in Woche 7 und 8 zurückkommen, doch das hier ist sozusagen die Basis, die hoffentlich die Grundlage dafür bildet, dass wir uns sagen, es ist wichtig, die Sichtweise zu verstehen und zu etablieren, so dass wir dann praktizieren können.
Den Fluss überqueren
Ich möchte gerne auf die Vorstellung zurückkommen, wie die Sichtweise die Handlung bestimmt. In der vergangenen Woche haben wir über Buddhas Analogie gesprochen, dass der Pfad wie ein Floß ist, das genutzt werden sollte, um über den Fluss zu überqueren und nicht dazu, dass wir es danach weiter mit uns herumschleppen, wenn wir den Fluss überquert haben und auf der anderen Seite angekommen sind. Wir lassen es am Ufer zurück. Wir nehmen es nicht mit. Stellen wir uns nun den Buddha vor, wie er am Hirschpark in Sarnath Belehrungen gibt. Stellen wir uns vor, er geht zum Fluss. Wie einige von euch wissen, ist Sarnath einige Meilen vom heutigen Varanasi, der Stadt am Ufer des heiligen Flusses Ganges (auch Mutter Ganges gemeint), entfernt. Überhaupt ist Varanasi die älteste Stadt in Asien, die seit 1800 vor Christus ➜kontinuierlich bewohnt worden ist, und diese Stadt ist zu einem wichtigen Industriezentrum geworden, bekannt für Seidenerzeugnisse, Parfüm, Elfenbein und Bildhauerei. Zu Zeiten des Buddha war Varanasi die Hauptstadt des Königreichts Kashi, das sich am westlichen Ufer des Ganges entlangstreckte.
Wenn man Varanasi heute besucht, dann gibt sich ein ähnliches Bild. Die heilige Stadt befindet sich am westlichen Ufer und wenn man von dort auf das östliche Ufer blickt, ist da nicht wirklich viel, abgesehen von einer sandigen Ebene, in der einige ➜asketische Sadhus leben. Trotzdem, stell Dir vor, Du willst den Fluss überqueren, vielleicht, um diese Sadhus zu treffen. Also gehst Du eine der Treppen zum Ufer hinunter und kannst das andere Ufer in der Ferne sehen, vielleicht einen halben Kilometer entfernt und hältst nach einem Bootsmann Ausschau, der Dich in seinem Floß hinüber rudern könnte. Das kann man auch heute noch machen. In Varanasi werden viele der kleinen Boote noch von Menschenkraft und nicht mit Dieselmotoren betrieben. Es gibt dort viele Bootsmänner. Also steigst Du ins Boot und wirst weggezogen und sofort merkst Du, dass die Strömung des Ganges bei Varanasi sehr stark ist und Du wirst flussabwärts gezogen.
Und wenn Du nur versuchst, einfach in gerader Linie ans andere Ufer zu kommen, landest Du trotzdem weit weg von Deinem Ziel, weil Dich die Strömung viele Kilometer weiter abwärts treibt. Die Bootsmänner wissen das natürlich. Sie haben diese Erfahrung gemacht und können die Strömung miteinberechnen. Sie stellen ihr Boot so auf, dass es flussaufwärts gerichtet ist und rudern hart gegen die Strömung an und mit dieser seltsamen, krabbenartigen Bewegung schaffen sie es tatsächlich, den Fluss so zu überqueren, dass sie genau am Ziel ankommen. Man könnte also sagen, trotz der Hindernisse auf ihrem Pfad – den starken Strömungen des Flusses – schaffen sie es trotzdem, ihr Ziel zu erreichen, weil sie eine klare Betrachtungsweise haben. In diesem Fall ist es wortwörtlich eine klare Betrachtungsweise, weil sie die andere Seite sehen. Ich hoffe, Ihr erkennt die Analogie zu Eurer Praxis.
Einen Bootsmann auswählen
Man kann noch etwas anderes von diesem Beispiel lernen: stellen wir uns vor, wir wollen auf die andere Seite gelangen. Wie sollen wir einen Bootsmann auswählen ? Würden wir nach dem Aussehen vorgehen ? Oder danach, wie schön sein Boot dekoriert ist ?
Das sind sichtbare, greifbare Kriterien. Aber bei genauerem Nachdenken wird uns klar, dass unser Bootsmann die Klarheit der Betrachtung braucht, dass er wissen muss, wie er das Boot angesichts der Strömung steuern muss. Wenn er dazu nicht imstande ist, dann werden wir unser Ziel nie erreichen, egal wie schön das Boot ist. Als Dzongsar Khyentse Rinpoche 1996 in Frankreich Madhyamaka unterrichtet hat, eröffnete er die Belehrungen ganz ähnlich, und das ist sehr wichtig für uns. Ich möchte ihn hier zitieren. Er sagte:
„Jetzt, wo die Zeitperiode fast vorbei ist , in der der Buddhismus in der westlichen Welt bekannt gemacht worden ist, muss sichergestellt werden, dass der Buddhismus richtig studiert und praktiziert wird. Bis jetzt haben wir versucht, auf die Methoden Wert zu legen, Dinge wie Meditation und Gurus, und neigten dazu, die Sichtweise zu vergessen. Das Studium von Madhyamaka ist wichtig, weil es weitreichende und intensive Analysen und Methoden beinhaltet, um die rechte Sichtweise herzustellen. Die richtige Sichtweise zu haben ist wie wenn man weiß, wie man nach Paris kommt. Angenommen, du reist mit einem Guide nach Paris, der sagt, er kennt den Weg und dann holt er plötzlich einen Reiseführer aus der Tasche und fängt an, sich seltsam zu verhalten. Wenn Du die Richtung nach Paris kennst, dann spielt es keine Rolle, ob der Führer Dich auf einer Autobahn oder durch den Busch leitet. Solange die Richtung stimmt, spielt es auch keine Rolle, wenn er sich irgendwie nervös verhält, denn Du kennst die Richtung und vertraust ihr.
Heutzutage, so scheint es, kümmern sich die Leute nicht mehr so sehr um die Richtung, stattdessen lassen sie sich vom Fahrzeug inspirieren, dem Vajrayana Fahrzeug, dem Mahayana Fahrzeug usw. Und noch schlimmer: sie finden Inspiration in ihrem Guide. Mit diesem Ansatz ist es aber sehr schwierig, das Resultat zu erzielen, solange man nicht so viel Verdienst hat, dass man per Zufall auf das Resultat stößt. Wie hören Belehrungen wie „Verweile in der Natur des Geistes“, die sehr berauschend und schön klingen, aber wir haben kein grundlegendes Verständnis für die Sichtweise.“
Und wieder denke ich, dass dies ein wichtiger Punkt für uns ist: über unser eigenes Verhältnis zum Pfad, zu den Belehrungen, zum Lehrer nachzudenken. Sind wir tatsächlich auf die richtige Sichtweise fokussiert ? Sind wir darauf fokussiert, die Richtung zu kennen ? Oder sind wir irgendwie ein bisschen zu sehr am Fahrzeug hängengeblieben, am Pfad oder an unserem Lehrer ? All das sind wichtige Fragen.
Zwischen dem richtigen und falschen Pfaden unterscheiden
Es ist eine Sache, in Varanasi zu sein und den Fluss zu überqueren, während man das andere Ufer sieht, aber was, wenn Du in einem Boot sitzt und versuchst, den offenen Ozean zu überqueren ? Du kannst das andere Ufer nicht sehen und weißt nicht, wohin es geht. Ohne eine Art Navigation, ohne eine Art Führung oder Kompass oder ohne zu wissen, wo man gerade ist und wo man hin möchte, ist man verloren. Ich denke, das ist wahrscheinlich eine bessere Analogie für uns, die wir versuchen, die Belehrungen in unserem täglichen Leben in der Welt anzuwenden. Die wirkliche Frage für viele von uns ist: wie soll ich handeln ? Es ist schon gut, wenn ich von mir behaupten kann, die richtige Sichtweise zu haben, aber wie kann ich das in meiner Praxis und in meinem täglichen Leben anwenden ? Und wirklich, die Frage ist, wie wir dann die Sichtweise des mittleren Weges verstehen und anwenden können, damit uns dies hilft, die Frage zu beantworten, wie wir handeln sollen.
Es ist ein Paradox, denn es ist wirklich ein Unterschied zwischen dieser Idee, dass der Buddha keine Sichtweise gelehrt hat und der Tatsache, dass der Buddha aber auch gelehrt hat, dass unser Pfad seine Basis auf der rechten Sichtweise haben sollte. Wir werden das zunehmend sehen, wenn wir durch den Text gehen: Nagarjuna und Chandrakirti sagen beide, dass es die Essenz der Sichtweise ist, keine Sichtweise zu haben. Und doch geht es beim edlen achtfachen Pfad stets darum, den rechten Pfad vom falschen Pfad zu unterscheiden. Dabei geht es darum, sicherzustellen, dass wir den Unterschied zwischen gut und schlecht, zwischen richtig und falsch erkennen. Wenn du dir diese ersten fünf Kapitel und Bhumis ansiehst, so gibt es da viele Diskussionen über den Unterschied zwischen gut und schlecht. Es scheint da also ein Paradoxon zu geben, wo wir auf einer Ebene zwischen gut und schlecht, richtig und falsch unterscheiden müssen, was nun tatsächlich dem achtfachen Pfad entspricht. Und dann, auf einer anderen Ebene, gibt es keine Sichtweise. Wie sollen wir nun diese zwei Ebenen verstehen ? Rinpoche hat uns darüber Belehrungen gegeben, besonders in Zusammenhang mit den gegenwärtig kursierenden Achtsamkeits-Belehrungen, von denen ihr vielleicht wisst, dass sie sehr viel Wert auf die Vorstellung legen, dass Achtsamkeit nicht wertend sein soll. Wenn man sich nun aber die buddhistischen Belehrungen ansieht, dann gibt es da doch ein essenzielles Element der Wertung und Unterscheidung. Wir müssen zwischen richtig und falsch unterscheiden. Wir können nicht einfach nur unsere Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sagen, es geht schon. Also nochmal: wie sollen wir handeln ?
Klosterregeln
Wenn man nun zurückgeht zum ursprünglichen Theravada-Pfad, der in erster Linie ein monastischer Pfad war, so wurde Handlung im Zusammenhang mit dem Leben in einem Kloster gesehen. Ganz bekannt sind ja die Pratimoksha Gelübde, wobei „prati“ wörtlich so viel bedeutet wie „gerichtet auf“ und „moksha“ bedeutet „Befreiung“. Mit diesen Gelübden sind also Verhaltensregeln gemeint, die zur Befreiung führen sollten. Das hört sich nun zunächst einmal recht gut an, aber ich weiß nicht, ob ihr euch diese 227 Gelübde einmal genauer angesehen habt. Ich habe das gemacht und hier sind ein paar davon. Übrigens ist ganz deutlich, dass es in diesen Gelübden um das Leben im Kloster geht, vermutlich darum, kleinen Jungen ein bisschen Disziplin beizubringen. Ein paar der Regeln, die in den Gelübden zum Ausdruck kommen, lauten:
„Du sollst Curry und Reis im Verhältnis 1:3 essen“
„Du sollst das Curry nicht unter dem Reis verstecken, um mehr zu bekommen“
„Du sollst nicht schlürfen, wenn Du eine Flüssigkeit trinkst“
Das ist ganz klar sehr spezifisch und wichtig im monastischen Leben, aber dann muss man sich fragen, ob diese Regeln als generelle Richtlinien für ein weltliches Leben nützlich sind. Nun, ein paar der Pratimoksha Gelübde beziehen sich auf ein Leben in der Welt. Hier beispielsweise ein paar Gelübde zu Teppichen:
„Keine Teppiche anzunehmen, die Seide enthalten“
„Keine Bodenteppiche anzunehmen, die nur aus schwarzer Schafwolle gemacht sind“
„Keinen Bodenteppich anzunehmen, der über die Hälfte aus schwarzer Schafwolle und zu einem Viertel aus weißer Schafwolle besteht“
„Keinen weiteren Bodenteppich zu kaufen, wenn der alte noch nicht 6 Jahre alt ist“
Auch diese Regeln sind wieder sehr spezifisch und ich denke, sie könnten vielleicht wichtig sein, wenn einer mit Teppichen Geschäfte macht, aber die meisten von uns werden diese Dinge hören und es als schwer empfinden, das in unserer gegenwärtigen Welt anzuwenden.
Und fast alles von diesen 227 Gelübden geht darum, was man nicht tun soll. Es sind nur wenige Dinge darunter, die empfohlen werden, die man entwickeln sollte, die man erstreben sollte, um ein gutes Leben in der Welt zu führen. Und Rinpoche sagte auch, für die meisten von uns ist so ein Klosterleben, in dem man 24 Stunden am Tag zu praktiziert, nicht realisierbar. Wir haben Familien, wir haben nicht die finanziellen Ressourcen, uns so einem Klosterleben zu widmen.
Angewandter Dharma ?
Selbst dann, wenn alles was wir tun, in Sitzen und Meditieren besteht, was der moderne Buddhismus oft verlangt: wenn wir uns nicht in den sozialen, ökonomischen und Umweltproblemen unserer Welt engagieren, können wir dann wirklich sagen, Buddhismus wäre relevant ? Das hat wohl auch zur Entstehung des sogenannten „engagierten Buddhismus“ erkennen, der sagt, dass wir uns viel stärker engagieren müssen. Übrigens: wenn man sich die Ursprünge des Mahayana ansieht, die sich aus der monastischen Tradition herausgebildet haben, dann bestand ein Grund für diese Entwicklung wohl darin, dass man den Haushältern, die nicht in Klöstern lebten, etwas bieten wollte. Bis zu diesem Zeitpunkt nämlich bestand der Pfad für einen Haushälter einzig und allein darin, einem Kloster zu spenden und zu hoffen, dass man in einem künftigen Leben als Mönch wiedergeboren wird, um praktizieren zu können. Ansonsten konnte man wenig machen. Wie nun Rinpoche meint: diese Abgeschnittenheit von der Alltagswelt könnte ein wesentlicher Grund dafür sein, warum der Buddhismus in Indien mehr und mehr vom Hinduismus abgelöst worden ist. Buddhismus war nicht ausreichend praktikabel. Die ursprüngliche Volksnähe bestand darin, den Menschen zu geben, was sie brauchten. Aber wie Rinpoche sagt: man kann den Leuten nicht nur geben, was sie wollen. Man muss ihnen sowohl geben, was sie möchten, aber auch was sie brauchen.
Unser Dharma sollte etwas sein, das uns hilft, uns zu transformieren, das uns auf unserem Weg zur Erleuchtung hilft und etwas, das uns wirklich hilft, anderen auf diesem Weg zu helfen, aber es muss auch praktikabel sein. Wie bereits in der letzten Woche angedeutet, halte ich es für eine durchaus gute Aufgabe, wenn wir darüber nachdenken, wie wir uns dem Dharma annähern – wie wir ihn nutzen, anwenden, praktizieren wollen und ob wir nicht vielleicht zu praktisch dabei werden.
Wenn wir nochmal auf die gegenwärtige Achtsamkeitsbewegung schauen: viel davon wird im Bereich von Unternehmen angewendet, im Geschäftlichen, mit dem Ziel, die Menschen erfolgreich, glücklicher, produktiver zu machen ? Nicht, dass der Buddhismus gegen diese Dinge wäre, aber an einem gewissen Punkt haben wir durch so eine Art und Weise wirklich den Pfad verloren. Dann sind wir nur noch dabei, unser Samsara ein bisschen schöner zu machen, anstatt dabei, zu versuchen zu verstehen, wie wir die Wurzel von Samsara herausreißen können. Wie ihr vielleicht wisst, war Rinpoche sehr besorgt über diese falsche Anwendung der buddhistischen Lehren und Techniken; das ist auch einer der Gründe, warum er einem seiner Bücher den Titel „Es geht nicht um Glück“ (engl.: „Not for Happiness“) gegeben hat. Es ist sehr leicht, wenn wir uns sagen, wir können vielleicht eine glücklichere Perspektive für unser Leben erzielen, wenn wir Dharma praktizieren. Aber das ist nicht der Sinn und Zweck. Wir sollten uns unserem Dharma nicht in einer Art und Weise annähern, die lediglich unser Samsara aufbessert. Dann haben wir das Eigentliche verfehlt.
Ich denke mal, dass man wirklich Nachsehen mit den Leuten aus der Achtsamkeitsbewegung haben sollte, denn wenn man sich die 227 Gelübde ansieht, dann ist es in der Tat so, dass es da wenig Anleitung dazu gibt, wie wir handeln sollten. Und wenn du dir nun die Belehrungen über die Sichtweise ansiehst, dann hörst du da Dinge wie: es gibt keine Sichtweise. Für jemanden, der nicht sonderlich vertraut ist mit diesen Belehrungen kann das dann durchaus darauf hinauslaufen, dass er sagt: „Ich schätze mal, diese Belehrungen haben uns nicht viel zu bieten.“ Und so wird es verständlich, warum manche Leute einen Achtsamkeitsweg einschlagen, der jegliche Art von Ethik oder jegliche Art der rechten Lebensführung und auch jegliche Art der rechten Sichtweise außer Acht lässt.
Einführung in den Mittleren Weg
In welche Art des Mittleren Weges wird eine Einweisung gegeben ?
Das bringt uns nun an den Anfang von Chandrakirtis Text, dem Madhyamakavatara. Er gibt eine Einführung in den Mittleren Weg – das ist der Titel des Textes, Einführung oder Eintritt in den Mittleren Weg. Ganz am Anfang sagt er, dass es zwei Arten von Madhyamaka (also des Mittleren Weges) gibt: in welchen nun wird eine Einführung gegeben ? Er stellt dann heraus, dass es sich um ein „wortgetreues“ Madhyamaka und nicht um „absolutes“ Madhyamaka handelt. Dieses wortgetreue Madhyamaka ist das intellektuelle Verstehen. Das, was wir letzte Woche als Entwicklung einer „unterstützten Theorie“ diskutiert haben. Das ist nicht dasselbe wie das, was man erfährt, wenn man zu dieser unterstützten Theorie praktiziert. Das wäre dann die Realisation der Nichtdualität, was dann dem absoluten Madhyamaka entspricht. Das ist etwas, in das hier keine Einführung gegeben werden kann – denn, wie Rinpoche oft gesagt hat – das Hören und Studieren der Belehrungen kann uns bis zu einem bestimmten Punkt bringen, aber dann müssen wir praktizieren. Belehrungen werden sich immer im Umfeld von Konzepten, Wörtern, Sprache und Rationalität bewegen, aber wir wollen versuchen, in einen Bereich zu gelangen, der jenseits dieser dualistischen Welt ist, jenseits von Rationalität.
Wie wird eingeführt ?
Chandrakirti sagt dann: wenn wir uns die Schriften ansehen, was sehen wir uns da an ? Sehen wir uns die Sutren an oder die Shastras, also die Kommentare ? Und Chandrakirti sagt hier, dass wir uns die Kommentare ansehen, insbesondere Nagarjunas berühmter Kommentar Mulamadhyamakakarika. Ein Teil der Herausforderungen für uns, die wir diesen Text in unserer gegenwärtigen Welt lesen besteht darin, dass der westliche Buddhismus der heutigen Zeit , vor allem in der Theravada Tradition, sehr stark auf authentifizierte Belehrungen – den Sutren des Palikanon – fokussiert ist. Vielleicht haben einige von euch Jay Garfield’s „Buddhismus im Westen“ (engl.: „Buddhism in the West“) und ich denke, da wird eine wichtige Frage gestellt: was sehen wir als die Belehrungen des Buddha an ? Was ist eine authentische Belehrung ? Sind es nur seine ersten aufgezeichneten Worte ? Dann sollte man aber im Hinterkopf haben, dass auch diese Aufzeichnungen vier Jahrhunderte nachdem der Buddha gelehrt hatte, entstanden. Oder sollten wir die Leute mitberücksichtigen, die seine Nachfolge antraten und später Kommentare geschrieben haben, inspiriert und in der Nachfolge seiner Belehrungen ?
Als Nagarjuna beispielsweise seine Einführung in den Mittleren Weg gegeben hat, schrieb er seinen Kommentar auf Basis der Sutren. Wir kommen gleich darauf zurück. Die Zeit, in der er schrieb, war um das Ende des 2. Jh. unserer Zeitrechnung (also 6-7 Jahrhunderte nach Buddha) und in dieser Zeit war es bereits zu erheblicher Missinterpretation und zu erheblichem Missverständnis der ursprünglichen Belehrungen gekommen. Es hat auch viele Missdeutungen gegeben. Ein wesentlicher Grund, weshalb Nagarjuna die ersten Texte zum Mittleren Weg geschrieben hat, bestand darin, die Missverständnisse zu bereinigen und eine authentische Interpretation dessen, was der Buddha lehrte, sicherzustellen. Man könnte also sagen, was Nagarjuna schrieb, war nicht originär in den Lehren des Buddha. Aber die Belehrungen des Buddha ließen deutlich mehr als nur eine einzige Lesart zu. Und einige Leute interpretierten die Belehrungen des Buddha in einer Art und Weise, wie es nach Nagarjunas Auffassung nicht korrekt war.
Eine lebende Tradition
Meine Auffassung ist, dass wir uns nicht alleine auf die Worte des Buddhas verlassen können, weil sie nicht diese Verwirrung mit abbilden, die spätere Kommentatoren dazu veranlasst hat, wieder zu bereinigen bzw. wieder Dinge zu entfernen. Wenn wir im Buddhismus starke Fundamentalisten wären, dann hätten wir Belehrungen, die nicht auf zeitgenössische Fragen zugeschnitten werden könnten und die auch keine Antworten auf zeitgenössische Fragen oder Missinterpretationen geben könnten, die also den Anforderungen der modernen Welt nicht gerecht werden könnten. Das ist aber die Essenz einer lebenden Tradition. In diesem Zusammenhang : Latein war immer die offizielle Sprache der katholischen Kirche, bis Papst Franziskus im Jahr 2014 die italienische Sprache zur offiziellen Sprache des Vatikan gemacht hat. Um bislang sicherzustellen, dass der Katholizismus eine lebende Tradition ist und weil man auf den Synoden lateinisch sprach, musste man lateinische Worte erfinden für z.B. Mobiltelefon, Fernseher, Computer und all solche Dinge. Nebenbei, wenn es euch interessiert, was Computer auf Lateinisch heißt: das Wort lautet „Computatrum“. Und klar, das ist kein ursprüngliches Latein. Es ist ein Beispiel dafür, wie etwas Neues eingeführt werden muss, um die Belehrungen am Leben zu erhalten.
In der Buddhistischen Tradition ist es nun so, dass viel vom Abidharma und viel der daraus folgenden Kommentare bekannt geworden sind, weil der Buddha zwei Dinge gelehrt hatte, die ziemlich paradox erscheinen. Er lehrte Anatta, die Idee, dass es kein real existierendes Selbst gibt, aber er lehrte auch vom Karma. Er lehrte Wiedergeburt. Und so fragten die Gegner des Buddhismus in den frühen Jahren des Buddhismus in Indien die Buddhisten „Wie könnt ihr das erklären ? Wie könnt ihr eine Sichtweise einnehmen, die von Karma und Wiedergeburt ausgeht, wenn ihr gleichzeitig sagt, es gibt kein wirklich existierendes Selbst ? Es gibt kein wirklich existierendes Selbst, das Wiedergeburt eingeht. Es gibt kein wirklich existierendes Selbst, das in der Zukunft einmal die Konsequenzen seiner gegenwärtigen guten oder schlechten Taten erfahren wird. Wenn ihr darauf besteht, dass es kein wirklich existierendes Selbst gibt, dann bricht die Vorstellung von Karma und Wiedergeburt zusammen.“
Der griechische Buddha
Es gibt da noch etwas, was vielleicht von historischem Interesse ist. Vor wenigen Augenblicken habe ich erwähnt, dass die erste geschriebene Version von Buddhas Worten in etwa im ersten Jahrhundert vor Christus erschien, etwa 400 Jahre nach Buddhas Tod. Der Buddhismus war eine mündliche Tradition, die man sich ins Gedächtnis einprägte und weitergab, und erst 400 Jahre später hat man aufgeschrieben. Erst in der jüngsten Vergangenheit gab es sehr interessante Forschungen, die einen Zusammenhang herstellten zwischen dem Buddhismus und der antiken griechischen Philosophie, insbesondere mit der Schule der Skeptiker, der Schule des Pyrrhon. Heute wissen wir, dass Alexander der Große im Zeitraum zwischen 327 und 326 v.Chr. bis nach Zentralasien und in den Nordwesten Indiens vorgedrungen ist und dass der große Philosoph Pyrrhon von Elis mit ihm gereist ist. Vieles deutet darauf hin, ja es gibt sogar gute Hinweise, dass Pyrrhon viele buddhistische Philosophen aus dieser Zeit getroffen und mit ihnen diskutiert hat. Als Lektüre kann ich das das Buch „Greek Buddha“ (Der griechische Buddha – Anmerkung d. Übersetzerin: bislang wohl nur auf Englisch erhältlich) von Christopher Beckwith empfehlen. Anstatt im ersten, befinden wir uns nun im 4. Jahrhundert vor Christus, also drei Jahrhunderte, bevor im Pali-Kanon der Buddhismus schriftlich festgehalten wurde. Es gibt nun wirklich datierte Manuskripte von Pyrrhon (datiert im Zeitraum zwischen 330 und 325 v. Chr.). Und es ist sehr interessant, wenn man diese Texte aus der skeptischen Philosophie liest: Pyrrhon basiert seine Philosophie auf drei Charakteristika, die genau den drei Buddhistischen Merkmalen anicca (Vergänglichkeit, Unbeständigkeit), anatta (Nicht-Selbst) und dukkha (Leiden) entsprechen. Wenn nun Rinpoche sagt, dass die Idee der 3 Siegel oder der 4 Siegel die Basis bzw. der Ursprung oder das eigentliche Kernstück des Buddhismus ist, dann ist es sehr interessant zu verstehen, dass das etwas ist, was wirklich zu Zeiten des Pyrrhon gelehrt wurde. Ich kann euch wirklich sehr empfehlen, das Buch zu lesen.
Zwischen Nagarjuna und Chandrakirti
Wenn wir an den Ursprüngen dieser Belehrungen interessiert sind: die Herausforderung ist, dass Rinpoche nicht explizit über Nagarjunas Mulamadhyamakakarika und auch nicht allzu viel über die Pali-Sutren gelehrt hat, so dass wir hier die Informationen ein bisschen selbst zusammenstellen müssen. Nagarjuna hat gegen Ende des 2. Jh. n. Chr. geschrieben und so ist die Zeitspanne groß zwischen ihm und Chandrakirti, der im 7. Jh. n. Chr. geschrieben hat. Eine Reihe neuer Schulen waren bis dahin entstanden, darunter am wichtigsten die Yogachara oder Cittamatra Schule, die durch die brahmanenstämmigen Halbbrüder Asanga und Vasabandhu gegründet worden war. Sie unterrichteten im 4. und 5. Jh. n. Chr., also deutlich nach Nagarjuna, aber vor Chandrakirti. In Chandrakirtis Madhyamakavatara geht es zu einem erheblichen Teil um eine Widerlegung der Cittamatra Sichtweise, die eine der herausforderndsten Gegenpositionen zu Chandrakirti bildet. Die Cittamatra Schule lehrt die Nur-Geist Sichtweise und ist als eine Art philosophischer Idealismus interpretiert worden, aber auch als eine Form der Phänomenologie, was in gewisser Weise sehr zeitgemäß ist. Wir können für uns festhalten, dass die Tradition Chandrakirtis – Prasangika-Madhyamaka – die Debatte gewonnen hat. Aber die Yogachara-Svantantrika-Madhyamaka Schule, die aus der Cittamatra-Schule entstanden ist, ist auch noch bis heute sehr einflussreich im Tibetischen Buddhismus geblieben, besonders in der Nyingma Tradition und den Dzogchen Traditionen. Diese Sache ist also noch nicht ganz gelöst worden und auch darauf werden wir in den kommenden Wochen noch zurückkommen.
Leerheit in den Pali-Sutren
Unser Text, Madhyamakavatara, geht nicht so wirklich in die Belehrungen über Leerheit ein, die in der Ära vor Nagarjuna existierten und auch nicht auf die Quellen in den Pali-Sutras. Um mich darüber zu informieren, bin ich zurückgegangen zu einigen alten Theravada-Meistern. Insbesondere gibt es eine großartige Website, die sich ➜Access To Insight nennt und mehr als 1000 Sutren aus dem Pali-Kanon umfasst. Thanissaro Bhikku, einer der Autoren der Webseite, widmet sich zu einem beträchtlichen Anteil den Sutren über Leerheit. Als Übersetzer des ➜Maha-suññata Sutra (MN 122) gibt er in der Einführung eine schöne Übersicht, in der er erklärt, dass es in den Sutren drei verschiedene Wege gibt, sich der Leerheit anzunähern. Ich würde gerne kurz auf jeden dieser drei Wege eingehen.
MN 121
(1) Leerheit als meditatives Verweilen: hier nennt er als Primärquelle das ➜ Culasuññata Sutra (MN 121). Hier sagt der Buddha zu Ananda:
„Ananda, der Mönch, der sich nicht mit der Wahrnehmung der Dimension des Nichts beschäftigt, nicht mit der Wahrnehmung der Dimension von weder Wahrnehmung noch Nicht-Wahrnehmung – kümmert sich um die Einmaligkeit der themenlosen Konzentration auf Bewusstheit. Sein Geist findet Freude, findet Zufriedenheit, er ruht und schwelgt in der themenlosen Konzentration des Bewusstseins.
Er erkennt, dass „diese themenlose Konzentration des Bewußtseins vom Geist erzeugt und hergestellt ist“. Und er erkennt, dass „was immer vom Geist erzeugt und hergestellt ist unbeständig und vergänglich ist“. Für den, der dies erkennt und sieht, wird der Geist frei davon, beherrscht zu sein von Sinnesfreude, von Werden, von Ignoranz. Mit dem Freiwerden des Geistes erwächst die Bewusstheit des Freiseins. Er erkennt, dass die Geburt ein Ende hat, das heilige Leben vollendet ist, die Aufgabe erfüllt ist. Es gibt nichts weiter in der Welt.“
Wir beginnen zu sehen, dass ein Teil dieser Worte vertraut klingt: diese Idee, dass da etwas Fabriziertes ist, etwas vom Geist Konstruiertes, das aber unbeständig ist und zerbricht. Das entspricht mehr oder weniger dem, wie wir im Mahayana über Leerheit nachdenken.
SN35.85
(2) Leerheit als ein Attribut der Objekte: Die Quelle dazu ist das ➜Suñña Sutra (SN 35.85):
„Dann ging der ehrwürdige Ananda zum Gesegneten und setzte sich bei seiner Ankunft, nachdem er sich verbeugt hatte, zu seiner Seite nieder. Als er da saß, sagte er zum Gesegneten: „Man sagt, die Welt ist leer, Herr. Inwiefern wird gesagt, dass die Welt leer ist ?“
„Insofern als sie leer von einem Selbst ist und leer von etwas, das ein Selbst besitzt. In dieser Art und Weise, Ananda, sagt man, dass die Welt leer ist. Und was ist leer von einem Selbst oder von etwas, das ein Selbst besitzt ? Das Auge ist leer von einem Selbst oder etwas, das ein selbst besitzt. Formen, das Augenbewusstsein, der Augenkontakt (Pali: phassa [„Effekt, der sich auf Basis der Sinne ergibt]), sie alle sind leer von einem Selbst oder etwas, das ein Selbst hat.“
„Das Ohr ist leer…“
„Die Nase ist leer…“
„Die Zunge ist leer…“
„Der Körper ist leer…“
„Der Verstand ist leer von einem Selbst oder etwas, das ein Selbst hat. Ideen, Verstandesbewusstsein, intellektueller Kontakt, all das ist frei von einem Selbst oder etwas, das ein Selbst hat. Daher sagt man, dass die Welt leer ist.“
Das ist eine klassische Darstellung aus dem Shravakayana. Wir gehen durch alle fünf Aggregate und die 18 Dhatus und sagen, dass jedes davon leer ist. Interessanterweise, wenn man von der Mahayana-Perspektive aus herangeht, dann würde man nicht sagen „Die Zunge ist leer“. Man würde sagen: „Es gibt keine Zunge“. Und wenn man sich dieses Sutra anschaut („Das Ohr ist leer, die Nase ist leer“), dann hört sich das an wie das Herz-Sutra. Aber im Herz Sutra würde man nicht sagen „Das Ohr ist leer, die Nase ist leer“, sondern es heißt: „Kein Ohr, keine Nase…“. So können wir also anfangen zu verstehen, dass man im Madhyamaka anders über die Leerheit spricht, dass man dort auch anders über das Selbst spricht. Wir werden später darauf zurückkommen, wenn wir über die Unterschiede zwischen den Shravakayana (oder Theravada)-Belehrungen und den Mahayana Madhyamaka Belehrungen sprechen. Viel hängt mit der Vorstellung von den zwei Wahrheiten zusammen, wenn es um relativ und ultimativ (letztendlich) geht. All diese Dinge sind spätere Mahayana-Entwicklungen.
SN12.15
(3) Leerheit als Nicht-Selbst: das ist aus dem ➜Kaccanagotta Sutra (SN 12.15). Eine entscheidende Passage ist die, in der der Buddha über die rechte Sichtweise spricht. Dabei sagt er explizit, dass er die Extreme von Existenz und Nichtexistenz meidet und den „Mittleren Weg“ lehrt.
„Der ehrwürdige Kaccayana Gotta näherte sich dem Gesegneten und setzte sich bei seiner Ankunft, nachdem er sich verbeugt hatte, zu seiner Seite nieder. Als er da saß, sagte er zum Gesegneten: „O Herr, man spricht von der rechten Sichtweise.“ „Inwiefern gibt es die rechte Sichtweise ?“
„Im Großen und Ganzen, Kaccayana, wird die Welt durch die Polarität von Existenz und Nichtexistenz aufrechterhalten. Aber wenn einer den Ursprung der Welt mit der richtigen unterscheidende Sichtweise betrachtet, dann zieht er die „Nichtexistenz“ der Welt nicht in Betracht. Wenn einer das Vergehen der Welt mit der richtigen unterscheidenden Sichtweise betrachtet, dann zieht er die „Existenz“ der Welt nicht in Betracht.“
„Im Großen und Ganzen, Kaccayana, existiert diese Welt durch Anhaftungen, durch Festhalten, Verzerrung. Wenn sich jemand nicht fesseln lässt durch dieses Anhaften, Festhalten, durch Fixierungen des Bewusstseins, durch Verzerrungen, Obsessionen, wenn sich jemand gelöst hat von der Vorstellung „mein Selbst“: so jemand ist nicht verzweifelt oder verunsichert darüber, festzustellen, dass etwas entsteht, wenn etwas entsteht und festzustellen, dass etwas vergeht, wenn etwas vergeht. Dann ist seine Erkenntnis unabhängig von anderen. Darunter, Kaccayana, versteht man die rechte Sichtweise.“
„Alles existiert“ – das ist das eine Extrem. „Alles existiert nicht“ – das ist das andere Extrem. Diese zwei Extreme vermeidend lehrt der Tathagata den Dahma über den Mittleren Weg.“
Nagarjuna und die Pali-Sutren
Nagarjuna selbst sagt, dass genau dieses Sutra, das Kaccanagotta Sutra (auch bekannt als die Belehrung des Katyayana), die Basis für das Mulamadhyamakakarika bildet. Zu erkennen in Kapitel 15, Vers 6 und 7 des Verses 6 des Mulamadhyamakakarika, wo er sagt:
[15:6] Intrinsische Natur und extrinsische Natur, existent und nichtexistent – diejenigen, die so sehen, sehen nicht die Wahrheit von Buddhas Belehrungen.
[15:7] In der Belehrung des Katyayana werden sowohl „es existiert“ als auch „es existiert nicht“ vom Gesegneten, der das Existierende und das Nichtexistierende ganz klar erkennen kann, bestritten.
Einer der Gründe, warum ich das alles erwähne ist, weil ich mich sehr darüber gefreut habe, dass es im Forum zum Teil schon zu Diskussionen darüber gekommen ist. Eine der Fragen, die da aufgekommen sind, war: was ist die richtige Art und Weise, über Nicht-Selbst (und dem Verständnis davon) zu sprechen und was sollen wir darunter verstehen ? Ich denke, darüber kann es leicht zu Verwirrungen kommen und so werden wir heute ein bisschen mehr darüber sprechen. Ich möchte euch auch dazu ermutigen, euch zu fragen, wie ihr selbst über Leerheit nachdenkt. Wie würdet ihr Leerheit in Bezug Nicht-Selbst oder nichtselbst oder „Keine Sicht des Selbst“ artikulieren ? Denn da gibt es in der Tat einen Unterschied.
Wir befinden und jetzt im Madhyamaka und Nagarjuna als Begründer ist ganz klar und deutlich, dass der Buddha keine der vier Entitäten anerkennt: weder Existenz noch Nichtexistenz, weder keines von Beidem, noch Beides. Die große Herausforderung für uns ist, dass wir all diese relativen Belehrungen kennen: von Karma und Wiedergeburt und wie wir uns gemäß dem achtfachen Pfad verhalten sollen. Auf welche Art und Weise wir richtig handeln anstatt falsch. Und immer noch bleibt die gleiche Herausforderung: wir brauchen irgendwie eine Richtung, auch wenn wir keine richtige Sichtweise haben. Die Legende sagt, dass als der Buddha am Geierscharberg zum Ersten Mal das Herz Sutra gelehrt hat, die Zuhörer aus 500 Arhats bestanden, die alle eine Herzattacke bekamen und starben, als die den Buddha über die große Leerheit lehren hörten. Das mag ja Dichtung sein, aber der wesentliche Punkt ist ziemlich klar: Das ist schon eine starke Herausforderung verglichen zu dem, wie man Leerheit im Theravada interpretiert. Deshalb möchte ich euch wirklich ermuntern, zu diskutieren, zu studieren, das Forum zu nutzen, „friedliche Schlachten“ zu diesem Thema zu führen – Ich denke, das ist gut, um euch selbst und eurer Verstehen zu hinterfragen. Und – wie Rinpoche sagt – wenn wir durch den Text gehen, dann sollten wir nicht alte indische philosophische Schulen und althergebrachte Ideen als unsere Opponenten ansehen. Wir sollten uns vielmehr fragen, wie unsere Opponenten heute im Hier und Jetzt in uns selbst lebendig sind. Zum Beispiel in der Art, wie wir an die Welt herangehen. Oder in der Art, wie wir uns dem Madhyamaka annähern. Wir werden herausfinden, dass wir von Zeit zu Zeit die Standpunkte unserer Opponenten übernehmen.
Chandrakirtis Basis für die Sichtweise: es gibt keine Geburt
Wenn ich jetzt durch den Text gehe, so ist da viel zu viel zu kommentieren zu dem, was Rinpoche gelehrt hat. Es waren heute in den Vorbereitungsunterlagen 60 Seiten aus dem Kommentar zu lesen und ich werde es nicht schaffen, alles abzuhandeln. Ich denke auch, dass Einiges hinreichend verständlich ist, so dass ich mich mehr auf die Dinge konzentrieren werde, die weniger klar sind.
Wie führt nun Chandrakirti in die Sichtweise ein ? Zunächst einmal legt er dar, dass es keine wahre Existenz gibt, indem er zeigt, dass es keinen Ursprung gibt. Viel, worüber wir sprechen handelt von der Vorstellung des Ursprungs oder der Geburt. Laut Rinpoche ist das vergleichbar mit unserer gewöhnlichen Auffassung, denn wenn wir etwas als gültig erklären wollen, dann fragen wir meist: „Woher kommt das ? Wo ist das hergestellt worden ?“. Wenn wir zum Beispiel eine Louis Vuitton-Tasche sehen, dann fragen wir uns: ist sie wirklich echt ? Oder handelt es sich um eine Täuschung, irgendwo in Bangkoks Straßen aufgetrieben ? Intuitiv verstehen wir alle, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem echten Artikel und der Fälschung. Aber nicht nur das.
Das bringt uns auch zu den Fragen zurück, über die zu reflektieren wir in der vergangenen Woche begonnen haben, die ewigen philosophischen Fragen. Wie sollen wir leben ? Was macht ein gutes Leben aus ? Wie können wir erkennen, was wahr, was gut ist ? Um diese Fragen beantworten zu können, brauchen wir eine Art Basis, eine Art Grundlage. Wir können nicht einfach sagen – wie es so manche zeitgenössischen Achtsamkeitslehrer vielleicht tun würden – „urteile nicht“. Denn dann wäre nicht wichtig, was gut und was schlecht ist. Wann wir nach links und wann nach rechts abbiegen sollten. Wir brauchen eine bestimmte Einstellung. Wir brauchen eine Basis für unsere Handlung. Und damit fangen wir jetzt an.
Wir steigen auf Seite 11 in den Text ein, ich werde euch immer die Stelle im pdf zur Einführung in den Mittleren Weg, Rinpoches Kommentar zum Madhyamakavatara geben, so dass ihr immer im Buch nachverfolgen könnt, wo wir gerade sind, wenn ihr das wollt.
DER HAUPTTEIL DES TEXTES
1:1
Die Hommage: Lobpreis auf das Mitgefühl
Die ersten vier Verse beginnen mit einer Hommage, in diesem Fall mit einer Hommage an das Mitgefühl. Ihr wisst vielleicht, dass es bei den Buddhistischen Belehrungen, insbesondere in der indischen Tradition, üblich ist, der Linie gegenüber Respekt zu erweisen, indem man Lob und Preisung vorbringt. In diesem Fall hier geht es um Preisung des Mitgefühls.
[1:1] Shravakas und Pratyekabuddhas entstehen aus dem Muni König;Buddhas entstehen aus Bodhisattvas;
Und aus dem Geist von Mitgefühl, Nicht-Dualität und
Bodhicitta wird der Bodhisattva geboren.
Jetzt werdet ihr fragen, warum Mitgefühl und nicht Weisheit gepriesen wird. Warum sollten wir das Bodhisattva Ideal stärker preisen als den Buddha und die drei Juwelen ? Wenn wir den Dharma preisen, dann preisen wir üblicherweise die Drei Juwelen: Buddha, Dharma und Sangha.
Auf S. 12 [Anmerkung der Übersetzerin: die Seitenzahlen beziehen sich auf das pdf der englischsprachigen Version] spricht Rinpoche auch über den Unterschied zwischen Shravakayana und Mahayana. Der Pfad, auf den wir uns begeben hängt davon ab, was wir erzielen wollen: wollen wir Nirvana oder wollen wir vollkommene Erleuchtung erreichen ? Das geht zwar über das Stadium hinaus, in dem wir uns gerade befinden, aber auf S. 169 sagt Rinpoche, dass es zwei Arten von Zuhörern gibt, und der Buddha hat beiden Belehrungen gegeben. Sie haben unterschiedliche Motivation.
- [Shravakayana]: Einige Studierende haben die Motivation, sich selbst von den weltlichen Leiden zu befreien. Sie sehen, dass das Leiden nichts Wesenhaftes ist, dass es gegenstandslos ist, aber in diesem Kreis von Samsara dreht sich das Leiden, kehrt wieder. Und dem wollen sie entkommen. Für diese Studierenden lehrt der Buddha, sich vom Klammern an das Selbst zu befreien, weil es das Klammern an das Selbst ist, das all diese samsarischen Probleme erzeugt.
- [Mahayana]: Aber da gibt es noch eine andere Gruppe, die nicht damit zufrieden ist, sich aus Samsara zu befreien. Sie wollen Befreiung, die darüber hinausgeht. Sie möchten über Samsara und auch über Nirvana hinausgehen. Das sind die Bodhisattvas.
Der Text ist direkt an Bodhisattvas gerichtet. Er ist für eine größere Betrachtungsweise, und somit werden wir nicht nur untersuchen, was zu Nirvana führt – darum geht es in den Theravada-Belehrungen – , sondern wir werden untersuchen, welcher Weg zu vollständiger und kompletter Erleuchtung führt. Das bedeutet auch, dass Nirvana und Erleuchtung nicht die gleichen Dinge sind. Auch darüber werden wir sprechen.
1:1cd
Mitgefühl, Nichtdualität und Bodhicitta
Wenn es darum geht, warum wir Mitgefühl lobpreisen (S. 14), dann geht es dabei um die Abfolge der drei Faktoren, die einen Bodhisattva ausmachen: ein Geist von Mitgefühl, Nichtdualität und Bodhicitta.
[1:1cd] Und aus dem Geist von Mitgefühl, Nicht-Dualität undBodhicitta wird der Bodhisattva geboren.
Und tatsächlich: Mitgefühl und Nichtdualität – das ist eine andere Möglichkeit, über Weisheit zu sprechen – wenn Mitgefühl und Nichtdualität zusammenkommen, dann entsteht Bodhicitta. Man könnte sagen, das Dritte wird aus den beiden Erstgenannten gebildet. Rinpoche betonte, dass Mitgefühl zwar der Ausgangspunkt ist, aber dass Mitgefühl alleine nicht genug ist, denn Mitgefühl ohne Nichtdualität macht Dich zum Opfer Deines Mitgefühls. Wenn wir also „Mitgefühl“ sagen, was ist das ? Es ist mehr als nur Sympathie. Es ist mehr, als dass es einem leid tut, wenn man eine Person leiden sieht. Es beinhaltet auch einen Anteil des Verstehens. Wenn Du in den Schuhen der anderen Person laufen würdest, dann würdest Du verstehen, was die andere Person durchmacht. Rinpoche sagt auch, unter dieser Definition kann seltsamerweise auch jemand, der darauf aus ist, anderen Schmerz oder Leid zuzufügen, irgendwo einen Anteil aus Mitgefühl haben, denn er kennt ja den Unterschied zwischen dem, was Leiden erzeugt und dem, was kein Leiden erzeugt. Wenn dagegen ein Ast aus einem Baum abbricht und auf deinen Kopf fällt, dann hat der Baum keine Absicht. Er hat kein Mitgefühl. Er ist nicht fähig, den Unterschied zwischen Leid und Nicht-Leid zu verstehen. Fühlende Wesen unterscheiden sich in dieser Hinsicht von Bäumen.
Wie könnte es nun aussehen, Mitgefühl ohne Weisheit zu haben ? Entsprechend dem Zeitgeist könnte man sagen, keine klaren Grenzen zu ziehen. Rinpoche sagt, wir könnten vielleicht zum Ziel haben, Menschen zu binden. Bodhisattvas machen so etwas nicht. Bodhisattvas haben Mitgefühl, aber sie sind nicht Ziel-orientiert, was für uns Anfänger vielleicht ein bisschen sonderbar scheinen kann. Vielleicht denken wir: „Ich dachte, mein Bestreben wäre es, anderen zu helfen ?“. Nun, unser Bestreben ist in der Tat die Erleuchtung aller. Aber Bodhisattvas gehen über das dualistische Verständnis von Selbst und Anderen hinaus. Für sie ist die Handlung nicht motiviert durch diese Art Dualismus. Wie wir später noch sehen: die Sonne scheint eben. Sie hat nicht die Absicht, auf eine bestimmte Person zu scheinen. Wenn eine Person etwas vom Sonnenschein abbekommen möchte, dann geht sie eben hinaus, in die Sonne. Das Verständnis, wie eine Person dem Buddha entspricht, ist ähnlich. Auch dazu kommen wir noch. Wenn wir wieder zu den 10 Ochsen kommen und auf das Bild und das Gedicht des zehnten Ochsen schauen, das ist ähnlich: wir haben den Weisen auf dem Marktplatz.
Im klassischen dualistischen Sinn hat er nicht die Absicht, den Wesen von Nutzen zu sein. Aber alleine durch deine Gegenwart ist er von Nutzen. Dieses Bild ist eine gute Darstellung der Frucht des Bodhisattva-Pfads.
Eine andere Art für eine falschverstandene Art des Mitgefühls ist zum Beispiel Mitgefühl ohne Weisheit, die uns zu empathischem Burnout führen kann. Das ist eine Herausforderung für viele Menschen, die in pflegerischen Berufen tätig sind, z.B. Krankenschwestern, aber auch für andere Menschen, z.B. Gefängniswärter. Es gibt Erhebungen, die zeigen, dass viele Gefängniswärter innerhalb der ersten Jahre, nachdem sie in Rente gegangen sind, sterben. Das kommt daher, dass sie total erschöpft sind durch die Ansprüche an ihre Rolle.
Rinpoche hat kürzlich in Mexiko darüber gelehrt, dass es unmöglich erscheinen könnte, wenn wir es anstreben, alle fühlenden Wesen zu befreien. Wie kann ich das schaffen ? Ich schaffe es kaum, auf ein paar Dutzend Menschen in meinem Leben einen positiven Einfluss zu haben. Da scheint es doch unsinnig, über alle fühlenden Wesen zu sprechen. Und doch ist es nicht nur ein Bestreben, es ist so eine Art „überhöhte Zielvorgabe“, wie man es in der Sprache der Manager nennen würde, die uns zwingt, uns unseren Anschauungen zu stellen. Und das bringt uns jenseits unseres rationalen Verstehens, weil wir mit unseren begrenzten rationalen Konzepten diese Idee nicht verstehen, „alle fühlenden Wesen“ zu befreien. Und so fangen wir an, uns der Nondualität anzunähern.
1:2
Warum steht das Mitgefühl an erster Stelle ?
An erster Stelle steht Mitgefühl. Dann kommt Nichtdualität und diese beiden führen zu Bodhicitta. Warum Mitgefühl zuerst ? Mitgefühl kommt zuerst, denn es ist der Samen, ist das Wasser, das unsere Pflanze bewässert, und ist dann die Frucht, die unsere Pflanze trägt.
[1:2] Mitgefühl allein ist zuerst der Same für die üppige Ernte der Buddhaschaft;Dann Wasser für sein Wachstum,
Und schließlich das, was heranreift als Zustand anhaltender Freude –
Deshalb preise ich zuerst das Mitgefühl.
Rinpoche weist oft auf den Unterschied zwischen dem erstrebenden und dem angewandten Bodhicitta hin und er sagt, wir sollten uns auf alle Fälle auf das angewandte Bodhicitta einlassen, aber das ist schwierig. Das erstrebende Bodhicitta ist gut, es ist etwas, das wir jederzeit tun können, etwas, wofür es keinen Grund gibt, es nicht die ganze Zeit zu tun. Es gibt keine Entschuldigung dafür, kein erstrebendes Bodhicitta zu haben. Wir können immer damit starten, Mitgefühl zu kultivieren. Wenn es mit der Nichtdualität (dem zweiten Stadium) zu Beginn schwierig ist: es gibt keinen Grund, sich nicht in Mitgefühl zu engagieren.
Im Jahr 1996 gab es währen der Belehrungen eine interessante Frage. Nicht direkt ein Bestandteil des Kommentars, aber als Rinpoche Fragen beantwortete, stellte jemand die Frage: „Hat der Buddha Mitgefühl ?“. Und hier erklärte Rinpoche, dass der Buddha keine dualistische Motivation hat. Er hat kein Subjekt und kein Objekt. Er ist den Wesen von Nutzen wie die Sonne, wenn sie scheint. Oder wie ein wunscherfüllender Baum. Wenn wir darüber sprechen, dass Buddha Mitgefühl hat, so ist das eine Projektion, die wir Menschen in Bezug auf den Buddha haben. Wir sehen sein Mitgefühl aus unserer Perspektive heraus. Rinpoche sagt, wir sollten uns bewusst sein, dass wir die Existenz des Buddhas von unserem Standpunkt aus sehen. Und wie wir im Herz-Sutra und im Diamant-Sutra gesehen haben, können wir nicht einmal sagen, dass der Buddha existiert. Und vielleicht können wir uns ein bisschen mehr mit dem Gedanken vertraut machen und anfreunden, dass unsere naiven Vorstellungen von Buddha nicht so ganz richtig sein könnten. Ich denke, viele von uns sind sehr vertraut mit so einer theistischen Vorstellung wie dieser. Wir haben von Buddha eine gottartige Vorstellung und in vielen asiatischen Ländern beten die Leute zu Buddha, um eine gute Ernte zu erhalten. Sie beten zu Buddha, um Erfolg in Geschäftsdingen zu haben. Das ist sehr theistisch, als ob es da draußen eine machtvolle Person gäbe, die uns ihre Gunst erweisen kann, wenn sie zufrieden mit uns ist. Das ist sehr dualistisch. Demgegenüber ermutigt Rinpoche uns dazu, die Weisheit des Mittleren Weges anzuwenden, wenn wir den Buddha verstehen wollen. Wenn wir über unsere gewöhnlichen theistischen Muster hinausgehen und den Buddha als unsere Projektion ansehen, dann beginnen wir damit, ein stärkeres nichtduales Verständnis zu entwickeln.
1:3
Drei Arten von Mitgefühl
Es gibt drei Arten von Mitgefühl, unterteilt nach den Objekten, mit anderen Worten: unterteilt nach den unterschiedlichen Arten der Wesen mit ihren jeweils unterschiedlichen Trübungen.
[1:3] Anfänglich fixiert auf das sogenannte ‚Ich’ als ein [existierendes] Selbstentsteht aus dem ‚Mein’ das Verlangen.
Hilflose Wesen, getrieben wie ein Bewässerungsrad,
vor dem Mitgefühl mit diesen verneige ich mich.
- Fühlende Wesen, die zwei Arten des Leidens erleben: Die erste Arte des Mitgefühls bezieht sich auf fühlende Wesen, die darunter leiden, am Leiden zu Leiden und die an der Veränderung leiden. Darunter versteht man die alldurchdringende Qualität von dukkha (Unzulänglichkeit) und anicca (Unbeständigkeit) in Samsara. Man nennt das auch „allgemeines Mitgefühl“, weil beispielsweise auch die Hindus es kennen. Zu den Objekten dieser ersten Art des Mitgefühls gehören alle gewöhnlichen fühlenden Wesen und auch die Shravakas und Pratyekabuddhas auf dem Pfad. Mit anderen Worten: jeder, der Wiedergeburt eingeht aufgrund von Karma und Emotionen.
1:4ab
Für die zweite und die dritte Arte des Mitgefühls sehen wir und nun die ersten zwei Zeilen von Vers 4 an:
[1:4ab] Fühlende Wesen sind wie die Spiegelung des Mondes in bewegten Gewässern.Sie als leer zu sehen in ihrer Veränderung und in ihrem Wesen
Hier haben wir ein Bild, vielleicht ein See in einer windigen Nacht, in der wir keine klare Spiegelung auf der Oberfläche des Sees sehen können, weil der See so bewegt ist. Wenn Du dagegen an einem ruhigen Tag hingehst, ist die Spiegelung klar. Das greift schon ein bisschen von dem vor, was wir in Kapitel 6 angehen.
- (2) Fühlende Wesen, die daran leiden, zusammengesetzt zu sein: für die zweite Art des Mitgefühls sagen die Kommentare, wir sollten die Betonung auf „bewegtes Gewässer“ und „Veränderung“ setzen. In dieser Analogie ist der See Samsara und der Wind ist Karma, Emotion, Dualismus und Ego, das Samsara aufwühlt und zu Leiden führt. Diese Analogie funktioniert sehr gut, denn wenn wir aufgewühlt sind durch Emotion und Ego, dann können wir nicht klar sehen. Zu den Objekten dieser zweiten Art des Mitgefühls gehören all diese fühlenden Wesen, die auch schon Objekte der ersten Art des Mitgefühls sind, Shravaka Arhats und Pratyekabuddhas, die schon ihr Ziel erreicht haben und all die Bodhisattvas bis hin zur 10. Bhumi während ihrer Meditation.
Und hier gibt es wieder einen großen Unterschied zwischen dem Mahayana und dem Shravakayana oder Theravada. Wenn man im Theravada einmal das Ziel des Arhats oder Pratyekabuddhas erreicht hat, dann gibt es nichts weiter zu tun. Hier dagegen sagt man, dass sie immer noch Trübungen haben, daher sind sie immer noch Objekte des Mitgefühls. Wie wir bereits vorher schon einmal gesagt haben: ist der Zusatnd des Nirvanas, das die Arhats erreicht haben, dasselbe wie Erleuchtung ? Während man im Shravakayana oder im Theravada ja sagen würde, sagen wir hier im Mahayana: nein. Das würde man auch allgemeines Mitgefühl nennen.
- (3) Fühlende Wesen die die Leerheit nicht vollständig realisieren: Für die dritte Art des Mitgefühls setzen wir den Schwerpunkt auf die Begriffe „Reflektion“ und „leer“ und diese Art des Mitgefühls umfasst all die, die die Leerheit der Phänomene (also dass Phänomene keine wahre Existenz haben) nicht ganz verstanden haben. Man nennt das auch außergewöhnliches Mitgefühl, da es sowohl die Selbstlosigkeit der Personen als auch der Phänomene umfasst. Dem steht die Realisation der Ichlosigkeit gegenüber, die mit dem Nirvana erreicht wird, also das Erkennen des Fehlens einer wahren Existenz des Selbst oder der Person, aber nicht notwendigerweise der Phänomene. Zu den Objekten dieser dritten Art des Mitgefühls gehören alle zuvor genannten Objekte und sogar die Meditationszeit der Bodhisattvas der 10. Bhumi. Das heißt also: alle arten von Buddha. Das Einzige, was hier nicht eingeschlossen ist, ist der letztendliche Zustand der Erleuchtung eines Buddha.
Wir könnten uns selbst nun fragen, was nun diese letzte Trübung ist, die dann offenbar noch zu klären bleibt, wenn die Bodhisattvas die obersten Bhumis erreicht haben. Maitreyas Uttaratantra-shastra listet 9 Trübungen, die auf dem Pfad gereinigt werden müssen (Vers 132 – 133), und diese Trübungen werden immer subtiler, je weiter der Bodhisattva auf dem Pfad voranschreitet. Wenn ein Bodhisattva die „reinen Bhumis“ (8 – 10. Bhumi) erreicht hat, dann bleibt nur noch eine sehr feine Trübung zurück. Und um diese letzte subtile Trübung zu entfernen, müssen die Bodhisattvas das wirklich allerstärkste Gegengift einsetzen, das „vajragleiche Gegengift“ (Uttaratantra-shastra, Vers 142). Nach der Vajrayana und der Mahasandhi-Tradition ist es diese allerletzte Trübung, die die Bodhisattvas reinigen wollen.
Erklärung der Bodhisattva-Stufen (Bhumis)
Wir fangen nun an, die Vorstellung zu untersuchen, wie wir über den Fortschritt auf dem Pfad nachdenken. Was ist eine Bhumi ? Es ist eine Kombination aus Weisheit und Methode (Sanskrit: upaya – „geschickte Mittel“). . Im Sanskrit bedeutet Bhumi „Erde“ oder „Land“, und auch heute noch benutzt man in Malaysia das vom Sanskrit abgeleitete Wort Bhumitera um sich auf den malayischen Volksstamm zu beziehen und auf die indigenen Völker in Südostasien: putra bedeutet so viel wie Sohn und Bhumi bedeutet Erde oder Boden, zusammen also „Sohn der Erde“. Hervorzuheben ist, dass Bhumi eine Kombination aus Weisheit und Methode ist, so wie Bodhicitta eine Kombination aus Weisheit und Mitgefühl ist. Mitgefühl findet hier seine Entsprechung in Rupakaya, in Form, in Methode und bedeutet daher auch, sich in geschickten Mitteln zu trainieren, Meisterschaft zu erlangen. Demgegenüber ist Weisheit Dharmakaya und entspricht der Leerheit, wenn man von Form und Leerheit spricht. Wie Rinpoche sagt: wenn man Weisheit hat, aber keine Methode, dann spricht man vom Pfad der Shravakas und Pratyekabuddhas. Wenn man aber Methode und keine Weisheit hat, dann entspricht das den ganz normalen Wesen. Und zurück zu dem, was wir über die Achtsamkeit gesagt haben: man könnte auch eine Technik, eine Methode haben, aber keine Weisheit.
Wenn sie im Zustand der Meditation sind, kann man Bodhisattvas nicht nach den verschiedenen Bhumis unterscheiden. In der Post-Meditation kann man ihre Qualitäten erkennen, aber eine niedrigere Bhumi kann die Stufe eines Bodhisattvas auf einer höheren Stufe nicht erkennen oder unterscheiden. Der vielleicht wichtigste Aspekt hier ist, dass wir über die Bhumis danach einteilen, wie Bodhisattvas Verunreinigungen geklärt haben. Unser Fortschritt entlang ds Pfades wird also nicht daran gemessen, wie viel wir hinzufügen, sondern daran, wie viel wir eliminieren. Wir kommen dann zu einem Ergebnis, das das Ergebnis einer Elimination ist (dreldré). Rinpoche hat in seinen Belehrungen über Maitreyas Uttaratantra-shastra über die Buddha-Natur sehr ausführlich darüber gesprochen.
1:4cd-1:5ab
Die erste Bhumi
In Zeilen 3-4 von Vers 4 und den ersten beiden Zeilen von Vers 5 geht es um die erste Bhumi. Hommage und Lobpreis sind abgeschlossen und nun beginnen wir mit dem Haupttext und den Bhumis.
[1:4cd] Der Sohn des Siegreichen hat dieses Verständnis,Und strebt – übewältigt von Mitgefühl – danach, alle Wesen vollständig zu befreien. [1:5ab] Ganz hingegeben wie in den Wunschgebeten von Samantabhadra,
Ist seine Freude vollendet. Dies ist als die Erste bekannt.
Wie man sieht, handelt Chandrakirti die ersten fünf Bhumis recht schnell ab, vermutlich weil er annimmt, dass die Leserin oder der Leser damit vertraut sind. Und in der Tat ist der Text, der als Quelle zugrunde liegt, das Dashabhumika-Sutra, also das Sutra der 10 Bhumis. In diesem Sutra geht es eben über diese 10 Bhumis. Daher ist in unserem Text nicht so viel über die Bhumis, abgesehen von einer sehr detaillierten Betrachtung der 6. Bhumi in Kapitel 6. Wenn ihr also bislang noch nicht die Möglichkeit gehabt habt, die Paramitas oder die Bhumis zu studieren und mehr darüber wissen wollt, dann empfehle ich Texte wie „Die Worte meines vollendeten Lehrers“ zu lesen, dort gibt es eine schöne Einführung im Kapitel über Bodhicitta. Oder gleich den ganz klassischen Text zu Bodhicitta, also Shantidevas Bodhicharyavatara. Beide Werke gehen sehr viel detaillierter auf die Paramitas ein und beide Texte streifen auch das absolute Bodhicitta, das hier bei der 6. Paramita über die Weisheit erscheint. Chandrakirti wählt einen kürzeren Ansatz, er fokussiert auf dem nondualen Aspekt der Paramitas. Er stellte keinen Vergleich an zwischen dualistischer und nicht-dualistischer Praxis, einer Praxis, die auf der rechten Sichtweise beruht.
Die Sprache der Sichtweise und die Sprache des Pfades
Auf S. 27 taucht eine andere hilfreiche Frage auf, die Rinpoche beantwortet hat, als er eine Einführung in die Sprache der Sichtweise und die Sprache des Pfades gegeben hat. Ich denke, das ist wichtig, denn einige Fragen, die von euch gestellt werden, gehen in diese Richtung. Beispielsweise fragen viele von euch, wie sich diese nichtduale Sichtweise, diese letztendlich Sichtweise Anwendung in der Praxis und in der Erfahrung finden kann, denn es scheint, dass sie verbunden sein sollten, aber wie können wir das verbinden ? Wir werden später, in Woche 5 dazu kommen, wenn wir über die zwei Wahrheiten sprechen, doch im Moment können wir bereits die Sprache der Sichtweise von der Sprache des Pfades unterscheiden. Die Sprache der Sichtweise spricht über die Wahrheit – was ist wahr ? Was ist wirklich ? Was existiert ultimativ und was nicht ? Die Sprache des Pfades hingegen geht über die Erfahrung und den Weg des Praktizierenden. Diese Sprache ist subjektiver, es geht dabei beispielsweise um Fragen wie die Hingabe zum Guru, oder wie man am besten Praktiziert, um die eigenen Trübungen aufzugeben. Rinpoche sagt, dass es sich dabei um sehr verschiedene Arten von Fragen handelt. Das ist eine Herausforderung und das wird uns in der nächsten Zeit noch beschäftigen. Ich wollte aber jetzt schon darauf hinweisen. Wenn ihr also eine Frage habt, dann fragt euch, ob es eine Frage über die Sichtweise ist oder eine Frage des Pfades. Geht es hier um die Sprache des Pfades oder eine Frage der Sichtweise, denn diese Fragen sind unterschiedlich. Wie wir in den Sutren sehen, ist die eine mehr über die letztendliche Wahrheit und eine andere mehr über die relative Wahrheit. Letztendlich werden wir einen Weg finden, diese beiden miteinander zu verknüpfen, und es ist wirklich wichtig zu verstehen, dass sie verschieden sind.
Wenn es keine Erleuchtung gibt, warum soll man dann praktizieren ?
Rinpoche sagt, wir brauchen die Sprache des Pfades, um uns als Praktizierende zu motivieren. Ein Teil der Herausforderung ist, dass Belehrungen, die über den Pfad gehen, relative Belehrungen sind. Sie sind eher vorläufige Belehrungen als endgültige Belehrungen. In einem gewissen Sinne könnte man also alle Belehrungen über den Pfad als unwahre, oder als eine Art „fake“ bezeichnen. Wir müssen dies aber dennoch praktizieren. Wir müssen diese Belehrungen hören und praktizieren, um die rechte Sichtweise verwirklichen zu können.
Shantideva ist bekannt für die Aussage, dass es in unserem Pfad darum geht, all unsere Trübungen und unsere Ignoranz loszuwerden. Und die allerletzte Trübung die es gibt ist die Vorstellung, es gäbe so etwas wie Erleuchtung. Letztendlich – wie Nagarjuna sagt – wollen wir irgendwo ankommen, wo es keine Sichtweisen mehr gibt. Wie es auch im Diamant-Sutra steht: wir können nicht einmal sagen, dass der Buddha, dass Erleuchtung, dass diese Dinge existieren. Aber wenn wir das zu früh sagen, wenn wir noch nicht bereit sind, wenn wir unser Bestreben aufgeben und wir noch nicht auf dem Pfad waren und all unsere andere Ignoranz und all unsere anderen Trübungen beseitigt haben, dann müssten wir Nihilisten werden. Oder wir würden aufgeben. Wir könnten einfach sagen: „Wozu praktizieren, wenn es so etwas wie Erleuchtung nicht gibt ?“. Und dann würden wir gar nichts erreichen. Wir würden unseren Dharma komplett ruinieren, weil wir mit unserer Ignoranz so, wie sie ist, verbleiben würden. Es ist also wirklich sehr paradox, wie so oft in diesen Belehrungen. Wir brauchen einen Pfad, auch wenn der Pfad „Fake“ ist, denn dieser „Fake“-Pfad ist das Einzige, das uns dazu bringen kann, die Wahrheit zu realisieren. Es ist ein riesengroßes Paradox.
1:5cd
Was bedeutet es, ein Bodhisattva zu sein ?
Nun auf Seite 28 fragen wir uns, was es bedeutet, ein Bodhisattva zu sein, und wir werden erst einmal über das Wort sprechen. Welche Art von Person bezeichnen wir als Bodhisattva ?
[1:5cd] Wer dies erreicht, wird von nun anAls Bodhisattva bezeichnet.
Hier in Vers 5 sagen wir, dass wir das auf zwei Arten tun können. Entweder durch Aktion (Praxis) oder durch die Sichtweise.
(1) Was es bedeutet, ein Bodhisattva durch Aktion (Praxis) zu sein
Wenn wir von einem Bodhisattva durch die Aktion sprechen, müssen wir darüber nachdenken, was Shantideva das strebende und das angewandte Bodhicitta nannte. Der Wunsch oder das Erstreben unterscheidet sich davon, etwas anzugehen oder anzuwenden. Wenn wir starten, dann ist es schon gut, nach etwas zu streben. Aber wenn man lediglich danach strebt, nur den vorübergehenden Wunsch hat, alle Wesen zur Erleuchtung zu bringen, dann ist das anders, als wenn wir uns wirklich dem Pfad verpflichten. Und das angewandte Boddihcitta fängt erst dann an, wenn man sich dazu verpflichtet, dass man alles, was man fortan tut in der Absicht macht, alle Wesen zur Erleuchtung zu bringen. In einer zeitgemäßen Sprache würde man sagen, man trifft eine existentielle Entscheidung. Der Wikipedia Eintrag zu Existenzialismus sagt:
Authentische Existenz umfasst die Vorstellung, dass man sich selbst erschaffen muss und dann in Übereinstimmung mit dem Geschaffenen lebt […] Ein authentischer Akt ist in Übereinstimmung mit jemandes Freiheit.
Es gibt da also die Vorstellung, dass wir die Geschichte, die wir von uns selbst erzählen, ändern; die Geschichte darüber, wer wir sind, worum es in unserem Leben geht, was unsere Bestimmung ist. Wir müssen uns auf eine sorgfältig durchdachte Autorschaft über unser eigenes Leben einlassen, in der wir nun über uns selbst als Bodhisattvas schreiben. Es geht um eine explizite Wiedererschaffung oder Erschaffung einer neuen Vorstellung von uns bzw. einer neuen Identität. Und an diesem Punkt können wir uns selbst als durch Aktion oder Praxis definierte Bodhisattvas betrachten. Das ist nun eine ganz andere Art, über sich selbst zu reflektieren. Wenn Du über Deine Geschichte nachdenkst, wenn Du Deine Leidenschaften beschreibst, Deine Bestimmung, über das, was Dein Leben ausmacht, Deine Arbeit, wie Du mit der Welt, mit Deinen Beziehungen, mit Deiner Arbeit in Beziehung stehst, wie machst Du das ? Was ist Deine Geschichte ? Wenn dich jemand frag: „Warum machst Du das ?“ Was antwortest Du dann ? Ist die Antwort: „Weil ich alle Wesen zur Ereuchtung bringen möchte ?“ Wäre das die Antwort ? Darüber solltest Du nachdenken.
(2) Was es bedeutet, ein Bodhisattva durch die Sichtweise zu sein
Die zweite Art, einen Bodhisattva zu definieren ist durch die Sichtweise. Hier geht es darum, dass der Bodhisattva eine direkte Erfahrung der Leerheit hat. Das ist die erste Bhumi and der Pfad der Sichtweise.
1:6-1:7abc
Die erreichten Qualitäten
Der nächste Teil des Textes (beginnend mit Vers 6) geht um die erreichten Qualitäten. In den nachfolgenden Versen wird die Sprache recht poetisch, sehr inspirierend und ich danke, das meiste davon ist sehr geradlinig.
[1:6] Jetzt hineingeboren in die Familie der Tathagatas,Wirft der Bodhisattva die drei beständigen Fesseln vollständig ab,
Ist er erfüllt von höchster Freude
Und kann hundert Welten erschüttern. [1:7abc] Heiter fortschreitend von Bhumi zu Bhumi,
Sind alle Wege in niedrige Bereiche nunmehr verschlossen;
Die Ebenen gewöhnlichen Daseins sind erschöpft.
1:7d
Die erhabene 8. Stufe
Ich möchte gerne den letzten Teil von Vers 7 hervorheben, bei dem der Text wir folgt lautet:
[1:7d] Es wird gelehrt, dass dies die erhabene 8. Stufe ist
In den Shravakayana oder Theravada-Belehrungen gibt es vier Stadien der Erleuchtung, die in acht Stufen unterteilt sind. Was hier zu Anfang gesagt wird ist, dass der Beginn der ersten Bhumi demjenigen entspricht, was im Shravakayana „Strom-Eingetretener“ heißt. In der Theravada Tradition bedeutet das, dass man noch sieben Wiedergeburten bis zur Erleuchtung hat. Die vier Stadien der Erleuchtung sind „Stromeingetretener“ (Sotapanna), „Einmal-Rückkehrer“ (Sakadagami), „Nicht-Zurückkehrer“ (Anagami) und schließlich „Arhat“ (Arahant). In den Kommentaren wird viel darüber debattiert, was mit der erhabenen 8. Stufe gemeint ist. Rinpoche hat sich nicht dazu geäußert und ich denke, wir brauchen das auch nicht vertiefen, aber Chandrakirti wollte darauf hinweisen, dass die Mahayana Belehrungen über die Bhumis eine Entsprechung im Theravada haben, nämlich in den Stadien der Erleuchtung.
Plötzlich und schrittweise
Ein wichtiger Punkt, der im Theravada ebenfalls betont wird, ist die Unterscheidung zwischen plötzlich und schrittweise. Es geht dabei darum, wie eine schrittweise und kontinuierliche Veränderung (mit anderen Worten eine kontinuierliche Praxis, bei der wir langsam an uns selbst arbeiten und unsere Trübungen reinigen) zu einem diskontinuierlichen Ergebnis führen kann. In unserer Alltagssprache würde man sagen, „Das Fass zum Überlaufen bringen“. Wir können ein Fass Tropfen für Tropfen anfüllen und schließlich wird nur ein einziger Tropfen, der für sich selbst genommen vielleicht nicht von Bedeutung ist, das Fass voll machen und dann kommt es zum Überlaufen. Es gibt also eine schrittweise, aber kontinuierliche Veränderung, die ganz langsam, langsam akkumuliert und dann schließlich zu einem Durchbruch führt. Das ist nun der Weg, wie er im Sutta Pitaka, also in den Lehrreden, gelehrt wird: Der Fortschritt des Verstehens kommt ganz auf Einmal. Das, was „Erkenntnis“ (abhisamaya) genannt wird, kommt nicht schrittweise. Jede der vier Stufen der Erleuchtung wird ganz plötzlich erreicht und auch die letztendliche Realisation tritt plötzlich auf.
Es gibt viele zeitgemäße Wege, das zu verstehen und mit unserer eigenen Erfahrung zu verknüpfen: wenn wir beispielsweise lange an etwas gearbeitet haben und dann einschlafen, kann es sein, dass wir am anderen Morgen aufwachen und einen „Aha-Moment“ erleben, wenn alles zusammenkommt und wir klar sehen. Wir haben dann auf einmal die Erkenntnis. Sogar in unserem täglichen Leben haben wir diese Erfahrung, dass wir sehr lange an etwas arbeiten und scheinbar keine offenkundigen Fortschritte machen und dann kann es auf einmal zu einer plötzlichen Erkenntnis kommen. Das ist genau die Art und Weise, wie wir Fortschritt auf dem Dharma-Pfad sehen sollten. In der Zen-Tradition gibt es die Vorstellung, dass man zunächst eine Erkenntnis (Satori) haben kann, aber dann ergibt sich daraus die Notwendigkeit für graduelles Training um sicherzustellen, dass aus dieser Erfahrung Realisation wird. Auf diese Art und Weise können wir also plötzlich und schrittweise verstehen, und die Bhumis oder Bodhisattva Stufen sind da ähnlich. Schrittweise und kontinuierliche Praxis führt zu diskontinuierlichen oder plötzlichen Übergängen von einer Bhumi zur nächsten.
Die Qualität, andere zu überstrahlen
Der nächste wichtige Vers ist Vers 8. Rinpoche sagt, dass man sich in den Shedras, also den Klosteruniversitäten, oft viele Wochen lang nur mit diesem Vers beschäftigt.
[1:8] Nach Erleuchtung strebend, sogar wenn er auf der ersten Ebene verweilt,Besiegt er diejenigen, die aus der Sprache des Königs der Weisen geboren sind einschließlich der Pratyekabuddhas.
Und durch ständig wachsendes Verdienst
Wird auf „Weit gegangen” auch sein Verständnis größer.
Hier geht alles darum, warum man sagen kann, dass ein Bodhisattva einen Shravaka Arhat oder einen Pratyekabuddha überstrahlen kann. Schon auf der ersten Bhumi ist ein Bodhisattva anders als diese Arhats und zwar einzig durch die Stärke seines Verdiensts, aber noch nicht durch die Stärke seiner Weisheit. Wenn wir sagen „durch die Stärke seines Verdiensts“, so gibt es dafür ein illustratives Beispiel: ein König ist umgeben von seinen Ministern und dann kommt die Königin, die ein Baby – den kleinen Prinzen – im Arm hält. Das Baby überstrahlt bereits alle Minister. Und selbst wenn diese Minister alle sehr weise, edel und erfahren sein mögen, können sie doch nie König werden. Aber das kleine Baby, der Prinz, wird eines Tages König, das ist sein Verdienst. Die Analogie ist, dass Bodhisattvas als Konsequenz ihres größeren Mitgefühls und ihres Verdienstes, das sie über Äonen der Praxis angesammelt haben, alle Voraussetzungen für die vollständige Erleuchtung in sich tragen.
Aber die Bodhisattvas überstrahlen die Arhats nicht durch die Stärke ihrer Weisheit, bis sie nicht die 6. Bhumi vollendet haben und in die 7. Bhumi eingehen. Hier wird es ein bisschen technisch und es kommen hier ein paar tibetische Begriffe ins Spiel, wenn es um verschiedene Fallstricke auf dem Weg geht.
Zunächst noch eine Analogie. Das Verständnis von Leerheit bei den Shravakas und Pratyekabuddhas ist vergleichbar einem kleinen Insekt, das in einem Senfkorn sitzt und isst. Das Senfkorn ist sehr klein und das Tier schafft darin Raum. Demgegenüber ist das Verständnis von Leerheit bei den Bodhisattvas weit wie der Himmel. Wir könnten nun fragen, warum Bodhisattvas die Arhats nicht durch ihre Weisheit überstrahlen, wenn sie ein so viel größeres Verständnis der Leerheit haben.
Dendzin und Tsendzin
Um diese Frage zu beantworten, müssen ein paar unterschiedliche Verunreinigungen bzw. Trübungen erklärt werden:
- Dendzin: das ist das Anhaften der wahren Existenz. Zuglauben, dass es ein Selbst gibt, was dann dazu führt, am Selbst, an Emotionen und am Leiden anzuhaften. Wie wir in der letzten Woche besprochen haben ist das die Ursache von Samsara – dieses Dendzin bzw. Haften an der wahren Existenz.
- Tsendzin: auch wenn einer das Anhaften an der wahren Existenz überwunden hat, bleibt noch eine weitere Verunreinigung, genannt Tsendzin (übersetzt: Fixierung auf Charakteristika). Das kann man so verstehen: auch wenn wir nicht glauben, dass etwas wirklich existiert, haben wir eine dualistische Wahrnehmung davon. Für uns gibt es immer noch Subjekt und Objekt und wir denken von Dingen, dass sie gut oder schlecht sind. Wir verdinglichen, wir ziehen mit unseren Worten, unserer Sprache, unseren Gedanken Grenzen um unsere Objekte. All das, alles was den Dingen in der Welt Eigenschaften zuschreibt, das ist Tsendzin. Wenn wir nun ein bisschen zurücktreten: irgendwie wissen wir, dass die Welt ein komplexes Gefüge aus interaktiven, abhängigen Phänomenen ist und – um es vorsprachlich auszudrücken: es ist sehr konventionell wo man um irgendein Phänomen die Grenze zieht. Es ist eine willkürliche Auswahl und ist sehr stark davon abhängig, wie du mit der Welt interagieren und die Welt der Phänomene nutzen willst. Und dann beginnen wir sehr rasch zu begreifen, dass viele der Dinge, die wir „Phänomene“ nennen, lediglich unsere eigenen Erfindungen sind. Es sind unsere Kreaturen. Und trotzdem: wenn wir einmal die Worte dafür geschaffen haben, dann haben wir auch diese Unterscheidungen geschaffen. Und es ist so leicht für uns zu vergessen, dass das alles Dinge sind, die wir geschaffen haben und dass wir angefangen haben, das zu glauben. Das ist Tsendzin.
- Nyinang: Später (auf S. 64) spricht Rinpoche über eine weitere Verunreinigung, Nyinang, die auch noch von der 8. Bis zur 10. Bhumi vorhanden ist und übersetzt so viel bedeutet wie „reines (pures) Begreifen“. Wie Rinpoche sagt, gibt es von der 8. Bhumi an keine Erscheinenungen mehr, und erst recht kein Festhalten an Erscheinungen. Es gibt keine Wahrnehmung mehr. Und doch ist noch eine gewisse Art von Subjektivität vorhanden. Wenn wir uns nichtduale Praktiken ansehen, wie Mahamudra und Mahasandhi: das sind Methoden, in denen daran gearbeitet wird, diese Art der Verunreinigung oder Trübung zu reinigen, bei der es zwar keine Erscheinungen und Wahrnehmungen mehr gibt, bei der aber trotzdem noch ein gewisser Grad an Subjektivität vorherrscht.
Zurück zu unserer Frage des Überstrahlens. Der Grund, weshalb wir sagen, dass Bodhisattvas die Shravakas nicht überstrahlen können – auch wenn sie die Leerheit in einem so viel größeren Maß verstehen (der Himmel gegenüber dem Loch in einem Senfkorn) – liegt darin, dass sie ihr Tsendzin nicht ein für alle Mal beseitigen können. Auch wenn sie während ihrer Praxis, auf ihrem Weg, die Anhaftungen an die Charakteristika immer wieder entfernen, so schaffen sie doch immer noch neue Ursachen für Tsendzin bis hin zur 6. Bhumi. Erst wenn sie einmal die 7. Bhumi erreicht haben, dann erschaffen sie nicht länger die Ursachen für Tsendzin und erst dann kann man davon sprechen, dass sie die Shravaka Arhats überstrahlen.
Das erhabenere Verständnis des eigenen Objekts
Wenn wir nun über das Verständnis der Leerheit sprechen, was ist genau damit gemeint ? Im Kommentar wird Nagarjunas Auffassung aufgezeigt, der dieses Verständnis bezeichnet als „das erhabenere Verständnis des eigenen Objekts“. Der Kommentar unterteilt diesen Satz in drei Abschnitte:
- (1) Das eigene Objekt: wenn man sich S. 37 ansieht, dann erkennt man, dass dort nicht nur über Existenz und Nichtexistenz gesprochen wird. Stattdessen wird Existenz gleich vierfach unterschieden, nämlich als Existenz, Nichtexistenz, weder Beides, noch Keines davon.
Das wird auch „Catuskoti“ oder „Tetralemma“ genannt. Begriffe, die sich in der klassischen indischen Logik finden. Das ist die Basis für Nagarjunas berühmte logische Beweisführung (auch Diamantschneider genannt). Und wenn wir nun zurückgehen zu dem, was ich schon früher über die Verbindung zwischen Buddhismus und der altgriechischen Philosophie gesagt: diese vierteilige Logik findet sich auch in Pyrrho‘s skeptischer Philosophie. Das ist sehr interessant, da es in den meisten westlichen logischen Systemen kein vergleichbares vierteiliges System gibt. Stattdessen gibt es den sogenannten Satz vom ausgeschlossenen Dritten – ein Theorem kann entweder wahr oder falsch sein, aber in der klassischen (westlichen) Logik gibt es keine dritte Option, ganz zu schweigen von einer vierten. Rinpoche sagt oft, dass östliche und westliche Logik sehr verschieden sind und mit Sicherheit gehört dieser Unterschied zwischen der zweiteiligen und der vierteiligen Logik dazu. Das werden wir sehen, wenn wir durch die Analysen gehen. Aber was auch interessant ist: in diesem Sinne kann man auch beobachten, dass zeitgenössische Logik über das klassische Konzept des ausgeschlossenen Dritten hinausgeht.
Das Paradox des Lügners und das harte Problem in der Bewusstheit
Auch im alten Griechenland gab es einige Beispiele, an denen diese scheinbar robuste Einteilung (entweder es ist wahr oder es ist falsch) zerbrach. Das klassischste Beispiel ist das Lügnerparadox, das ihr vielleicht kennt. Dieses Beispiel stammte ursprünglich von einem griechischen Denker namens Epimenides, ein Kreter, der um das Jahr 600 v. Chr. gelebt hat. Er soll gesagt haben: „Alle Kreter sind Lügner“. Und natürlich ist diese Aussage paradox: wenn das, was er gesagt hat, wahr ist, dann hat er eine Wahrheit ausgesprochen, was bedeutet, dass nicht alle Kreter Lügner sind. Und doch: wenn er lügt, indem er sagt „alle Kreter sind Lügner“, dann bedeutet das, dass einige Kreter die Wahrheit sagen. Eine simplere Version des gleichen Sachverhalts ist der Satz „Diese Aussage ist falsch“. Schon diese vier Worte sind paradox. Manche von Euch haben vielleicht Douglas Hofstadters Buch „Gödel, Escher, Bach“ gelesen, in dem es um Gödels Theoreme zur Unvollständigkeit in der reinen Mathematik geht und ein klassischer Beweis für Gödels Theorem arbeitet damit, mathematische Sätze zu konstruieren, die diese paradoxen Qualitäten haben.
Und das ist sehr interessant, denn dieser Bereich der Untersuchung wird in der zeitgenössischen Philosophie des Bewusstseins und der kognitiven Wissenschaften sehr lebendig. Wir werden in Woche 5 dazu kommen. Und sogar Hofstadter sagte über sein Buch, das ja dem Anschein nach über Mathematik, Kunst und Musik geht, dass es in Wahrheit nicht wirklich darum geht. Es geht darum, wie Erkenntnisaus verborgenen neurologischen Mechanismen heraus entsteht. Das steht ganz eng in Verbindung mit dem sogenannten harten Problem in der Philosophie des Bewusstseins: wie können wir subjektive Erfahrung erklären, wenn scheinbar alles eine physische Basis (also das Gehirn) hat ? Darauf werden wir noch kommen und das bringt uns auch wieder zurück zur Yogacara-Schule, dem Cittamatra, den Befürworten (mit einer starken Haltung) von „Nur-Geist“ und Bewußtsein. Es ist sehr verlockend, ihre Ansicht zu akzeptieren auf Basis dessen, wie wir uns instinktiv zu Bewusstheit positionieren. Ganz deutlich drücke Descartes dies mit den Worten „cogito ergo sum“ – „ich denke, also bin ich“, aus. Wenn wir zurück gehen zu dem, was wahr ist, was als wahre Erkenntnis zählt, und was falsch ist – für Descartes war es unanfechtbar, dass das wahr war, was er über seine eigene Bewusstheit, seine eigene Subjektivität erfahren konnte. Wie können wir darüber disputieren ? Wir werden uns später damit konfrontieren.
Das Nicht-Selbst verstehen: Leerheit ist nicht dasselbe wie Nichtexistenz
Wir haben schon gesehen, dass Nagarjuna nicht nur darüber spricht, wie Dinge nicht-existent sind. Das ist der Ansatz des Shravakayana oder Theravada: nachzuweisen, dass das Selbst nicht wirklich existiert. Aber hier im Madhyamaka wollen wir über alle vier Eckpfeiler des Catuskoti hinausgehen: es geht nicht nur um die Eliminierung des Festhaltens am Selbst (oder an der Existenz), sondern auch um die Eliminierung des Festhaltens an der Nichtexistenz, des Festhaltens an beidem oder an keinem. Und dies, also über alle vier Extreme hinwegzugehen, das versteht man unter der großen Leerheit, also der Leerheit der Leerheit und das wird in Woche 6 behandelt. Ein anderes Missverständnis, das häufig auftritt, wenn wir über die große Leerheit sprechen, die über die 4 Extreme hinausgeht: diese große Leerheit ist nicht gleichzusetzen mit Nicht-Existenz, die nur über eines der 4 Extreme hinausgeht. Das ist eine mögliche Quelle für Missinterpretation und Verwirrung zwischen einigen Theravada Texten und einigen Mahayana Texten. Wenn man sich die wörtliche Bedeutung von Nirvana ansieht, so bedeutet das so viel wie „ausblasen“ oder „auslöschen“ und das wird traditionell verstanden als Auslöschung der drei Feuer oder der drei Gifte Gier, Hass und Verblendung. Wenn diese drei Feuer ausgelöscht sind, dann kommt es zur Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten. Nach Auffassung des Theravada bedeutet Nirvana, das Anhaften am Selbst loszulassen, was die Ursache für die drei Feuer oder die drei Gifte ist. Dem gegenüber geht es im Mahayana nicht darum, loszuwerden. Dort heißt es „Form ist Leerheit“, mit anderen Worten, wir versuchen das Anhaften an den falschen Vorstellungen von Existenz loszulassen. Und im Herz-Sutra heißt es auch „Leerheit ist Form“, so dass es auch darum geht, falsche Vorstellungen von Nichtexistenz loszulassen. Es geht also um dieses Paradox, das jenseits unserer gewöhnlichen Rationalität liegt.
Wie ich bereits früher erwähnt habe, gab es im Forum eine Diskussion darüber, was wir mit Nicht-Selbst meinen. Nun, wenn wir im Madhyamaka vom Nicht-Selbst sprechen, so ist das eine Kurzzusammenfassung von Nagarjunas Verständnis, das das Selbst weder existiert noch nichtexistiert, und dass weder beides zutrifft nicht zutrifft. Diese Auffassung wird auch bezeichnet als „über die Extreme hinaus“ oder „nondual“, da Nagarjunas Verständnis vom Mittleren Weg über alle dualistischen Extreme hinausgeht. Und wir sollten uns in der Tat immer selbst daran erinnern, dass diese „Sichtweise“ der Leerheit eigentlich eine „Nicht-Sichtweise“ ist, die über alle Sichtweisen hinausgeht. Nagarjuna hat sogar gesagt, dass ein Weiser nicht einmal in der Mitte bleiben soll. Rinpoche hat betont, dass wir versuchen können, darüber zu sprechen, aber weil es so paradox ist, wird es schnell nicht mehr fassbar für Sprache und die Gedanken unseres rationalen Verständnisses. Wie bereits in der ersten Woche gesagt: der einzige Weg, Leerheit wirklich zu verstehen ist über die Meditation. Lediglich darüber zu sprechen, macht es nur schlimmer. Um auf die vorangegangen Beispiele vom Lügner-Paradox und Gödels Theorem zurückzukommen: dort konnte man gut sehen, dass Sprache, dualistische Konzepte und rationale Beschreibungen an einem bestimmten Punkt zusammenbrechen können und nicht ausreichend sind, um Nichtdualität zu beschreiben oder uns in den Zustand der Nichtdualität zu bringen.
Was ist nun das Objekt, das gemeint ist, wenn jemand ein Verständnis der Leerheit hat und das von Nagarjuna als „Jemandes eigenes Objekt“ bezeichnet ? Zusammengefasst ist das nicht nur das Theravada-Verständnis, dass es kein wirklich existierendes Selbst gibt, sondern es ist ein Verständnis von Leerheit, das jenseits der 4 Extreme von Existenz, Nichtexistenz, Beidem oder Keinem geht.
Verstehen Shravakas und Pratyekabuddhas die Leerheit der Phänomene ?
Im nächsten Schritt geht es um den zweiten Aspekt im Satz vom „erhabenere Verständnis des eigenen Objekts“, nämlich um den Begriff „erhabener“.
- (2) erhabener (überlegener). Hier sprechen wir darüber, inwieweit die Shravakas und Pratyekabuddhas ein Verständnis davon haben, dass Phänomene nicht wirklich existieren. Inwieweit kann man behaupten, dass die Auffassung von der Leerheit der Phänomene im Mahayana übergeordnet ist ?
Wir wissen, dass Shravakas ein Verständnis von der Leerheit des Selbst der Person haben, denn sonst könnten sie das Nirvana nicht erreichen. Aber wenn sie auch ein Verständnis der Leerheit der Phänomene haben, so könnte man sich fragen, wozu man überhaupt den Mahayana-Pfad braucht, in dem das alles gelehrt wird. Bhavaviveka, einer der frühen Kommentatoren von Nagarjunas Mulamadhyamakakarika führte an, dass Shravakas einzig um Nirvana bemüht sind und es ihnen daher gar nicht um die Leerheit der Phänomene geht. Aber Chandrakirti hält gegen diese Auffassung und sagt, wenn sie das Nirvana erreichen können und ein Verständnis von der Leerheit des Selbst haben, dann müssen sie in gewisser Weise auch die Leerheit der Phänomene verstehen. Das erklärt er damit, dass sie ein Verständnis der Leerheit der fünf Aggregate haben müssen, die das Selbst ausmachen. Und tatsächlich hat der Buddha dies auch gelehrt:
Im ➜Phena Sutra, einem Pali-Sutra, gibt es einen berühmten Vers, der die Leerheit der Phänomene beschreibt:
Form ist wie eine Schaumwolke; Gefühl ein Bläschen; Erkenntnis ein Trugbild; Bewusstsein ein Zaubertrick – so wurde es gelehrt. Wenn diese Erscheinungen jedoch auftreten, dann beobachtet sie und untersuche sie sorgfältig. Sie sind leer, inhaltslos für den, der sie richtig betrachtet. So ist es eben, es ist ein magischer Trick, das Gebabbel eines Idioten. Es ist ein Mörder. Keine Substanz ist hier zu finden.[SN 22.95]
Wenn ihr daran interessiert seid, warum die Phänomene Mörder genannt werden: das ist aus einem anderen Sutra, dem ➜Yamaka-Sutra, in dem Shariputra die Geschichte von jemandem erzählt, der einen reichen Haushälter kennt und dessen Geld stehlen will. Der gibt sich dann als Diener aus, gewinnt das Vertrauen des Haushälters und tötet ihn dann. Nachdem er diese Geschichte erzählt hatte, fragte Shariputra den Yamaka, ob es nicht wahr ist, dass der Diener, auch wenn er ein Mörder war, vom Haushälter nicht für einen Mörder gehalten worden ist. Yamaka stimmte zu und Shariputra fuhr damit fort, diese Geschichte damit zu vergleichen, wie wir unseren Körper mit unserem Selbst verwechseln:
Und gleichermaßen geht eine nichtkundige, normale Person, die keine Achtung vor den Noblen hat und nicht sehr erfahren und diszipliniert in ihrem Dharma ist, eine Person, die keine Achtung vor integren Gestalten hat und nicht sehr erfahren und diszipliniert in ihrem Dharma ist, davon aus, dass die Form (also der Körper) das Selbst ist oder dass das Selbst eine Form hat, oder dass im Selbst Form wäre oder dass das Selbst Form wäre.[22.85]
Was er damit sagt ist Folgendes: Wenn es zu dieser falschen Sicht auf das Selbst kommt, insbesondere auf das Verhältnis zwischen Selbst und Körper (wir werden später noch am berühmten Beispiel des Wagens darauf zurückkommen), dann wird das Anhaften an diesen falschen Vorstellungen als ebenso irreführend angesehen, wie ein Mörder, der sich als treuer Diener ausgibt. Wir unterstellen etwas Solides, aber es ist ein magischer Trick, um es mit Buddhas Worten auszudrücken. Das Gebabbel eines Idioten, es gibt darin keine Substanz.
Vielleicht habt ihr schon entdeckt, dass es auf der Website der Khyentse Foundation eine neue wunderbare Übersetzung des ➜Vimalakirti Sutra (Das Sutra der Belehrung des Vimalakirti) eingestellt worden ist, das als Juwel unter den Mahayana Sutras gilt. Auf der Website kann man die neue Übersetzung von Robert Thurman herunterladen, zu der Rinpoche eine richtig wunderbare Einleitung gibt, eingebettet in wunderbare Kunstwerke. Diese Übersetzung enthält auf S. 144 des pdf einen Teil, der die Leerheit des Körpers ganz ähnlich ausdrückt wie das Phena Sutra:
Dieser Körper ist wie ein Ball aus Schaum. Nicht in der Lage, irgendeine Art von Druck auszuhalten. Er ist wie eine Seifenblase und nicht von langer Dauer. Er ist wie eine Fata Morgana, entstanden aus dem Appetit der Leidenschaften. Er ist wie der Stamm eines Bananenbaums, ohne Herz. Ach ! Dieser Körper ist wie eine Maschine, eine Verknüpfung von Knochen und Sehnen. Er ist wie eine magische Illusion, aus Fälschungen bestehend. Er ist wie ein Traum, eine irreale Vision. Wie eine Spiegelung ist er das Abbild früherer Handlungen. Er ist wie ein Echo, abhängig von den Konditionierungen. Er ist wie eine Wolke, charakterisiert durch Strömungen und Auflösung. Wie ein Lichtblitz, instabil und in jedem Moment zerfallend.
Ein anderes Beispiel ist der abschließende Teil des Diamant-Sutras (Abschnitt 32) mit den klassischen Worten:
Alle bedingten PhänomeneSind wie ein Traum, eine Illusion, eine Blase, ein Schatten,
Wie Tau oder ein Blitzstrahl
Und als solche sollen wir sie verstehen.
Wir haben nun also auf all diese Arten besprochen, wie die Art und Weise, auf die im Mahayana die Leerheit der Phänomene verstanden wird, dem Theravada-Pfad überlegen ist. Auch im Theravada betrachtet man die Phänomene als leer und ohne wahre Existenz. Aber im Mahayana gehen wir vollständig darüber hinaus. Weder existieren die Phänomene, noch existieren sie nicht, und weder trifft beides zu noch keines. Im Mahayana kommen auch noch die Belehrungen über die Paramitas und Mitgefühl und so weiter dazu, so dass der Mahayana Pfad auch in diesem Sinn überlegen ist.
- (3) Verstehen: schließlich, auf S. 41 kommen wir zum dritten Aspekt der Formulierung „das höhere Verständnis des eigenen Objekts“, nämlich zum Verstehen. Man sagt, die Mahayana-Belehrungen sind überlegen, weil sie klarer, breitgefasster und vollständiger sind. Und auch hier sagt man, dass die Leerheit, wie sie im Shravakayana gelehrt wird, eng und begrenzt ist, während man im Mahayana von vier verschiedenen Arten von Leerheit spricht, die alle die 4 Extreme negieren.
Definition von Ignoranz (Nichtwissen, Unwissenheit) und Weisheit
An dieser Stelle würde ich gerne einen kurzen Kommentar über die Unwissenheit machen. Wir sprechen viel über Weisheit, das Gegenteil von Nichtwissen. Wenn wir uns den Mahayana-Belehrungen annähern, dann sind die Begriffe „Ignoranz“ oder „Nichtwissen“ für viele von uns erst einmal eine Herausforderung bzw. irreführend, da wir darunter primär verstehen, dass wir etwas nicht wissen oder bestimmte Informationen nicht haben. Im Lexikon findet sich für Ignoranz folgende Erklärung:
Ignoranz: Fehlen von Wissen oder Information.Synonyme: Unverständnis von, Unwissenheit, Unbewusstheit, Nichtvertrautsein mit, Mangel an Erfahrung mit, Fehlen von Kenntnis über, Fehlen von Information über.
Wenn wir uns die Definition von Weisheit ansehen, dann sieht es etwas besser aus, da geht es mehr um Erfahrung und gute Einschätzung, aber auch hier ist die Bedeutung, dass Erfahrung mehr Weisheit bringt, weil man dann mehr weiß.
Weisheit: die Qualität, Erfahrung, Wissen und ein gutes Urteilsvermögen zu haben. Die Qualität, weise zu sein.Synonyme: Klugheit, Intelligenz, Verstand, gesunder Menschenverstand, Scharfsinn, Cleverness, Pfiffigkeit, Einsicht, Urteilsvermögen, Besonnenheit, Vorsicht.
Einige dieser eher relativen Aspekte von Weisheit sind für uns bei unserer Praxis sehr wichtig, denn der Edle Achtfache Pfad ist eine Praxis, in der relativen Welt klug und weise zu handeln. Aber wenn wir eine Basis für unsere Sichtweise schaffen wollen und in diesem Kontext von Weisheit sprechen, dann meinen wir damit das Ergebnis der Eliminierung. Wir möchten unsere Ignoranz und unsere Trübungen eliminieren. In diesem Sinne hat das tibetische Wort für Buddha, Sangye, die Bedeutung „gereinigt“. Wir ehren den Buddha, weil er erwacht ist. Erwacht sein bedeutet, nicht eingeschlafen zu sein. Wir ehren den Buddha nicht dafür, dass er mächtig ist oder schön und dergleichen. Bei Wikipedia gibt es eine schöne Erklärung dazu auf der Seite zu ➜Avidya (Ignoranz):
In den verschiedenen buddhistischen Belehrungen und Traditionen gibt es viele unterschiedliche Arten oder verschiedene Ebenen, um Avidya zu erklären. Auf der grundlegendsten Ebene bedeutet Ignoranz so viel wie die wahre Natur der Realität nicht zu verstehen. Genauer bedeutet das, die Natur des Nicht-Selbst und die Lehren des abhängigen Entstehens nicht zu begreifen. Avidya ist also nicht ein Mangel an Information sagt Peter Harvey, sondern ein festgefahrenes Fehlverständnis der Realität. Gethin bezeichnet Avidya als „positive falsche Vorstellung“, nicht nur Abwesenheit von Wissen. Es ist ein grundlegendes Verständnis im Buddhismus, dass Avidya über die Natur der Realität die grundlegende Wurzel von Dukkha ist und nicht die Sünde.
Rinpoche sagt, es ist nicht so, dass wir nicht genug wissen. Es geht darum, dass wir Dinge wissen, die nicht korrekt sind. Wir haben uns eine Illusion, eine Halluzination, eine Fata Morgana kreiert: wir sehen etwas und halten es für existent, auch wenn da gar nichts ist.
Dualismus und Nondualität
Das bringt uns nun zur Nichtdualität. Wir sind im Alltag sehr vertraut mit unseren dualistischen Unterscheidungen in gut und schlecht, schön und hässlich usw. und diese Unterscheidungen finden sich in der Konzeption und den Charakteristika von Tsendzin. Wir wissen schon, dass es nicht so richtig Sinn macht, über eine wirklich existierende schöne Person zu sprechen. Würde eine Person wahrhaft existierende Schönheit aufweisen, dann würde jeder diese Person schön finden. Erinnern wir uns daran, dass wahre Existenz bedeutet, dass etwas unabhängig von Ursachen und Bedingungen ist. Wenn es also so etwas wie wahrhaft existierende Schönheit gibt, dann müsste jeder diese Schönheit gleichermaßen erfahren. Wir wissen sehr genau, dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt. Wir alle nehmen die Menschen nicht auf die gleiche Art und Weise wahr. Wir wissen, dass Schönheit nicht wirklich existiert und wir wissen, dass diese Art der dualistischen Vorstellung nicht funktioniert.
In der Mahayana-Sichtweise ist das Verständnis von Nichtdualität noch grundlegender, weil wir nicht nur sagen, dass Objekte keine wahrhaft existierenden dualistischen Charakteristika wie schön oder hässlich haben. Wir sagen vielmehr zuallererst, dass es keine beständigen getrennten Entitäten von Subjekt und Objekt gibt. Rinpoche sagt, wenn wir uns im Dualismus verfangen, dann trennen wir Subjekt und Objekt. Ein paar von Euch haben gefragt, was mit Dualismus gemeint ist. Nun, das ist es.
Über Subjekt und Objekt hinausgehen
Faszinierend sind hier die Überschneidungen mit westlichen Ansätzen. Insbesondere möchte ich euch auf die Arbeiten von Bob Kegan aufmerksam machen, einem Professor der Harvard Universität für Erwachsenenbildung und berufliche Entwicklung. Er ist ein führender Experte im Bereich Erwachsenenentwicklung. Von ihm gibt es ein wunderbares Zitat aus dem Artikel „Epistemology, Fourth Order Consciousness, and the Subject-Object Relationship“, in dem Kegan über die Entwicklung während des menschlichen Lebenszyklus spricht, und in welchem Zusammenhang sie zu Dualismus und dem Verständnis von Subjekt und Objekt steht:
„Wir beginnen in der frühesten Kindheit an einem Ausgangspunkt, an dem es überhaupt keine Subjekt-Objekt Unterscheidung gibt, da das Wissen des Kindes ganz und gar subjektiv ist. Es gibt nichts, das nicht ich ist, es gibt keine Unterscheidung in innen und außen. Es gibt beispielsweise keine Unterscheidung, ob die Ursache für ein Missbehagen durch zu helles Licht oder durch einen hungrigen Magen hervorgerufen wird. Es gibt keine Unterscheidung zwischen Selbst und Anderen.“
Ihr wisst ja vielleicht auch, dass Babys in den ersten Lebensmonaten nicht wissen, dass ihre Hände und Füße zu ihnen gehören. Sie können auch nicht zwischen sich selbst und ihrer Mutter unterscheiden. Kegan fährt fort:
„Das Endstadium dieser Geschichte, dieses Prozesses der schrittweisen und qualitativen Verschiebung von dem, was Subjekt war, zum Objekt hin – […]“
In Klammern könnte man hier hinzufügen, dass der Triumph der Rationalität und der Aufklärung im Westen in der Geburt einer Weltsicht bestand, die auf Wissenschaft und Objektivität beruhte. Auch das war eine Entwicklung von Subjektivität (Irrationalität) hin zu Objektivität (und Rationalität). Kegan sagt, indem das, was Subjekt war, mehr und mehr hin zum Objekt entwickeln, dann wäre unser Endpunkt
„[…] ein Stadium, in dem die Subjekt-Objekt Unterscheidung wieder zu einem Ende kommt, in umgekehrter Richtung, als dies zu Anfang des Lebens geschah. Wie ihr wisst war Alan Watts in den Sechziger Jahren (des 20. Jh.) ganz stolz darauf zu sagen, sein Baby sei ein Buddha. Das zeigt aber ein totales Missverständnis auf. Es gibt zwei verschiedene Wege, wie man aus der Subjekt-Objekt Trennung herauskommt. Ein Weg ist, ganz und gar Subjekt zu sein, ohne Objekt. Das war Watts Baby. Ein anderer Weg ist, dass Subjekt ganz in das Objekt hinein zu leeren, so dass es überhaupt kein Subjekt mehr gibt. Das bedeutet, man betrachtet die Welt nicht mehr von einem Aussichtspunkt aus, der getrennt vom Subjekt ist. Dann nimmt man die Weltperspektive oder die Perspektive des Buddha ein. Es gibt also einen gewaltigen Unterschied zwischen dem Nichtdualismus eines kleinen Kindes und dem Nichtdualismus eines Buddha.“
Leerheit, Nichtdualität und Abhängiges Entstehen
Einige von euch haben gefragt, wie wir Leerheit, Nichtdualität, Abhängiges Entstehen, gegenseitige Abhängigkeit und so weiter unterscheiden können. Nun, wir werden später noch auf all diese Begriffe treffen und in den kommenden Wochen treffendere Definitionen entwickeln, aber hier in Kürze ein paar Erklärungen:
- Leerheit: hier berufen wir uns auf Nagarjunas Verständnis, indem wir uns mit Leerheit auf die Leerheit der Leerheit beziehen, d.h. weder Existenz noch Nichtexistenz, weder Beides noch Keines. Auch nicht in der Mitte zu bleiben, Das bezieht sich auf die letztendliche Wahrheit.
- Nichtdualität: jenseits von Subjekt und Objekt, auch wenn man dem Zitat von Kegan entnehmen könnte, dass es einen Weg des Verstehens gibt, der dem des Buddha näherkommt und einen anderen Weg, der totale Subjektivität bedeutet. Beides ist hier nicht gemeint. Das führt nur zu Narzissmus. Interessant ist hier auch, dass in den Thanissaro Bhukku Leerheit in den Pali Sutren, die bereits früher zitiert wurden, kommentiert, indem man den Objekten eine Leerheit von Attributen zuschreibt. In den Pali Sutren stehen Dinge wie „ Das Auge ist leer, die Nase ist leer, das Ohr ist leer..“ usw. Von der Mahayana Perspektive aus ist das immer noch dualistisch, da immer noch ein Phänomen (Objekt) unterscheiden, das leer von einem Attribut ist. Beispielsweise unterscheiden wir immer noch ein Ohr – das ist Tsendzin, ein Charakteristikum, eine Bezeichnung, ein Ding, das wir „Ohr“ nennen. Und auch wenn wir sagen, dass es leer ist, dann gibt es da doch ein Subjekt-Objekt-Verhältnis. Die Nichtdualität, wie wir sie im Mahayana verstehen ist anders als im Theravada, das Leerheit als ein Attribut der fünf Aggregate betrachtet. Auch das sollte uns helfen, eine bessere Vorstellung davon zu bekommen, warum das Verständnis der Leerheit der Phänomene im Mahayana als übergeordnet gegenüber dem Theravada-Verständnis angesehen wird.
- Abhängiges Entstehen: nun sprechen wir über konventionelle Phänomene und wie Dinge in der Welt entstehen und aufkommen. Das ist nun eine Diskussion zur relativen Wahrheit. Und wenn wir nun darüber nachdenken, wie in der relativen Welt alles funktioniert, dann erkennen wir, dass alles voneinander abhängig ist. Wir sind nicht in der Lage, die komplexe Gesamtheit der räumlichen und zeitlichen Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung zu entwirren, die unsere Welt der Phänomene ausmachen. Wir kommen in Woche 6 darauf zurück.
Rinpoche sagt, dass es in der Tat nur eine Ignoranz gibt, nämlich das Festhalten an den Phänomenen so als hätten sie ein wahrhaft existierendes Selbst. Dennoch können wir in diesem Text diese Ignoranz aufteilen in das Anhaften an das Selbst der Person und das Anhaften an das Selbst der Phänomene zum Zweck der Zurückweisung falscher Sichtweisen und um Leerheit nachzuweisen. Auch Chandrakirti baut Leerheit auf zwei Ebenen auf. Zum einen so, wie sie in allen Buddhistischen Fahrzeugen verstanden wird, einschließlich Theravada und Mahayana. Und zum anderen, wie sie nur in der Mahayana Tradition verstanden wird, insbesondere auf die verschiedenen Arten, wie im Mahayana das „erhabenere Verständnis des eigenen Objekts“ lehrt, worüber wir bereits gesprochen haben.
Insbesondere in Woche 5 ist es für uns wichtig, das Anhaften am Selbst der Person zurückzuweisen, da es in der zeitgenössischen Philosophie des Geistes, der Philosophie des Bewusstseins, in der Phänomenologie sehr stark um diese Dinge geht. In der Tat gibt es derzeit aktive Debatten zu diesen Themen, vielleicht habt ihr davon mitbekommen, wenn ihr die „Mind and Life“-Konferenzen verfolgt habt, in denen Seine Heiligkeit der Dalai Lama sich mit führenden Neurowissenschaftlern ausgetauscht hat. Es gibt eine Menge Diskussionen darüber, wie man die objektiven Methoden der Wissenschaft (Erfahrungen in der dritten Person) ausweiten kann auf die Erfahrungen des Bewusstseins (Erfahrungen in der ersten Person). Macht das überhaupt Sinn ? Es gibt einige hochinteressante Debatten darüber, was das alles bedeutet und wir werden in der Lage sein, mehr Sinn dahineinzubringen im Licht unseres Verständnisses von Nondualität.
Rinpoche sagt, wenn man sich fragt, was nun von größerer Bedeutung ist, dass Selbst der Person oder das Selbst der Phänomene, dann ist das Selbst der Phänomene von größerer Tragweite, da die Person nur ein Phänomen ist. Es ist also möglich, das -Anhaften am Selbst der Person zu überwinden, was im Shravakayana, im Mahayana –Pfad geschieht, aber trotzdem bleibt das Anhaften am Selbst der Phänomene zurück. Das ist ein Grund dafür, weshalb wir sagen, dass der Mahayana-Pfad, der Madhyamaka-Pfad überlegen ist.
1:9-1:15
Die erste Bhumi: Großzügigkeit
Als nächstes wenden wir uns den Qualitäten der Paramitas zu, die mit Vers 9 beginnen, in dem es um Großzügigkeit geht. Die meisten dieser Verse sind sehr geradlinig.
[1:9] Die erste Ursache für vollkommene Erleuchtung,Großzügigkeit, ist hier das wichtigste.
Sein eigenes Fleisch gibt der Bodhisattva voll Freude,
Verweist damit auf das Unsichtbare. [1:10] Gewöhnliche Wesen sehnen sich nach Glück,
Können nicht ohne Zufriedenheit leben.
Aus Einsicht, dass Zufriedenheit aus Großzügigkeit entsteht,
War dies das erste, wovon Muni sprach. [1:11] Ohne Mitgefühl, völlig ohne Feingefühl,
Nur bemüht um das eigene Wohl –
Selbst solche Wesen können Zufriedenheit
Und die Beendigung aller Leiden durch Großzügigkeit erreichen. [1:12] Außerdem werden sie durch das Ausüben von Großzügigkeit
Schnell einem höheren Wesen (Aryas) begegnen,
Den Fluss von Samsara gänzlich unterbrechen
Aufgrund dieser Ursache erlangen sie endlich Frieden. [1:13] Wer sich dem Wohlergehen anderer verpflichtet,
Wird bald durch Großzügigkeit Glück erlangen.
Daher wird für jene mit Mitgefühl und für jene ohne
Die Wichtigkeit von Großzügigkeit betont. [1:14] Wenn der Bodhisattva „Gib!” nur hört oder denkt,
Übertrifft seine Freude
Die Freude des Nirvana eines Arhat,
Ganz zu schweigen [von der Freude], alles zu geben. [1:15] Im Leiden beim Zerschneiden und Hingeben seines Körpers
Erkennt er den Schmerz,
Den andere in den Höllen und so weiter ertragen.
So strebt er danach, alles Leiden zu entwurzeln.
1:16
Was ist eine Paramita ?
Ich möchte gerne ein paar Worte zu Vers 16 sagen, in dem Chandrakirti charakterisiert, was man eine Paramita nennen kann. Das ist vergleichbar der früheren Diskussion, was einen wahren Bodhisattva ausmacht.
[1:16] Geben, das leer ist von Geber, Gabe und Empfänger,Wird als transzendente Paramita bezeichnet
An diesen drei zu hängen,
Wird also gewöhnliche Paramita gelehrt.
Er sagt hier, dass Paramita soviel bedeutet wie „darüber hinausgegangen“ und deshalb existiert Paramita nicht für die erste Bhumi, da – das haben wir bereits diskutiert – wir erst später darüber hinausgehen. Weil wir bis zur 6. Bhumi immer noch dieses Tsendzin haben. Wir können nun drei Arten von Paramita unterscheiden:
- Die transzendente Paramita der Großzügigkeit: man spricht von wahrer oder transzendenter Paramita, wenn wir Großzügigkeit üben ohne die Vorstellung von einer Gabe, einem Geber oder einem Empfänger. Es gibt kein Subjekt, kein Objekt, keine Aktion – das ist eine vollkommen nonduale Sichtweise, jenseits von Tsendzin und jenseits von Dualität.
- Die gewöhnliche Paramita der Großzügigkeit: sie liegt vor, wenn man noch am Subjekt, am Objekt und an der Aktion anhaftet. Es herrscht immer noch Dendzin vor. Das gilt für Bodhisattvas die noch auf dem Pfad sind und für fühlende Wesen, wie wir sie sind.
- Weltliche Großzügigkeit: das ist einfach nur eine nette Person. Vielleicht machen wir nette Dinge für unsere Freunde und so. Vielleicht sind wir großzügig. Doch wie bereits früher aufgezeigt haben: wenn wir nicht die bewusste Entscheidung getroffen haben, dass alle unsere Taten der Erleuchtung aller Wesen dienen sollen, dann kann so ein Handeln nicht einmal als gewöhnliche Paramita bezeichnet werden. Für eine gewöhnliche Paramita muss man zumindest ein Bodhisattva sein, der sich durch seine Taten auszeichnet. Mit anderen Worten: man muss schon weitergekommen sein als lediglich Bodhicitta anzustreben. Man muss sich selbst und sein Leben dazu verpflichten, alle Handlungen, allen Sinn in die Erleuchtung aller Wesen zu investireren.
1:17
Warum können wir dann nicht einfach nur praktizieren ? Warum müssen wir die Sichtweise studieren ?
Ich spreche das an, weil wir uns häufig fragen: „Warum können wir nicht einfach nur praktizieren ? Warum müssen wir so viel Zeit aufwenden, um die rechte Sichtweise aufzubauen ? Was soll das ?“. Nun, vielleicht beginnst Du zu sehen, dass du dann, wenn du nicht die richtige Sichtweise hast, dabei landest, einfach nur die gewöhnliche, weltliche Großzügigkeit zu praktizieren. Du kommst gar nicht erst an die gewöhnliche Paramita heran, geschweige denn die transzendente Paramita. Du bist in Aktion ohne jede Spur von Weisheit. Und solange du dich nur gemäß deinen gewöhnlichen Gepflogenheiten verhältst, sammelst du keinerlei Verdienst an. Mit anderen Worten: du unternimmst nichts, um dich Tropfen um Tropfen um eine graduelle Veränderung deiner Gewohnheiten zu bemühen, die dich dann an einem bestimmten Punkt zu einer diskontinuierlichen Veränderung, zu Erkenntnis und dann zur Erleuchtung bringt.
[1:17] Fest gegründet in diesem Geist, ist der BodhisattvaEin heiliges Wesen geworden, hinreißend und strahlend vor Freude,
Das wie der Wasserkristall-Juwel
Dichte Dunkelheit vollkommen besiegt.
2:1-5:1
Kapitel 2 – 5: Disziplin, Geduld, Eifer (freudige Anstrengung) und Meditation
Die verbleibenden Kapitel zu den ersten fünf Bhumis sind Kapitel 2 zu Disziplin, Kapitel 3 zu Geduld, Kapitel 4 zur freudigen Anstrengung und Kapitel 5 zur Meditation. Diese vier Kapitel sind klar und deutlich. Wenn es dazu Fragen gibt, dann fragt, aber ich denke, ihr werdet das gut verstehen.
6:1-6:3
Kapitel 6: Welchen Fragen gehen wir auf den Grund ?
Es geht dann weiter mit Kapitel 6 und die ersten sieben Verse sind eindeutig. Die harte Arbeit beginnt dann in der kommenden Woche mit Vers 8.
[6:1] In ‚Vordringen’ verweilt sein Geist in Meditation,Dringt zum Dharma vollkommener Buddhaschaft vor.
In der Betrachtung der Soheit des abhängigen Entstehens,
Verweilt [der Bodhisattva] in Weisheit und erreicht so Aufhören. [6:2] So wie eine ganze Gruppe blinder Menschen
Leicht an ihr Ziel geführt werden kann
Von einem Sehenden, genauso kann Intelligenz
Die blinden Eigenschaften zum Sieg führen. [6:3] Einer, der den tiefgründigen Dharma dieser [Bhumi] erkannte,
Durch die Schriften ebenso wie durch Beweisführung,
War Arya Nagarjuna. Gegründet auf seine schriftliche Überlieferung,
Werde ich diese Überlieferung erklären, so wie sie heute existiert.
Ind den ersten Versen spricht Chandrakirti erst einmal ein bisschen darüber, was Weisheit ist. In den letzten beiden Zeilen von Vers 1 sagt er:
[6:1cd] In der Betrachtung der Soheit des abhängigen Entstehens,Verweilt [der Bodhisattva] in Weisheit und erreicht so Aufhören.
Wie aus dem Kommentar hervorgeht, gibt das Anlass zu zwei Fragen, die dann für den Rest von Kapitel 6 zu unserem Hauptthema werden. Diese Fragen bilden auch den Rest des vierjährigen Teachings und werden uns in dieser Serie bis zur 6. Woche begleiten. Die Fragen lauten:
- Was bedeutet es, wenn wir sagen „Abhängiges Entstehen“ ?
- Wenn wir sagen „Weisheit, die das abhängige Entstehen erkennt“, sprechen wir dann über etwas, das durch Weisheit erkannt wird (was also einer subjektiven Wahrnehmung entspricht) ? Mit anderen Worten: wie können wir die Weisheit, den „Erkenner“ verstehen, wenn wir uns auf der nichtdualen Ebene befinden ?
Wir werden also ein Verständnis dafür entwickeln, was abhängiges Entstehen bedeutet, wie die Dinge in der Welt funktionieren. Was wir uns unter der Weisheit vorstellen sollen, die das versteht. Das alles werden unsere Themen sein.
6:4-6:7
Wer sollte über die Leerheit unterrichtet werden ?
Verse 4 – 7 sind insofern wichtig, als sie die Frage behandeln, wer die Adressaten der Belehrungen über die Leerheit sind. Mit anderen Worten: wer sollte über die Leerheit unterrichtet werden ? In Vers 4 gibt es dazu ein wunderbares Bild:
[6:4] Sogar ein gewöhnliches Wesen mag, wenn es von Leerheit hört,Wieder und wieder große Freude in sich aufsteigen fühlen,
Die Tränen hervorbringt, welche seine Augen benetzen
Und die Haare an seinem Körper erzittern lässt. [6:5] Er hat die Saat für den Geist vollkommener Erleuchtung
Und ist ein vollkommener Empfänger für die Unterweisung,
Ihm muss die letztgültige Wahrheit gelehrt werden,
Damit die daraus sich ergebenden Eigenschaften entstehen. [6:6] Jederzeit vollkommene Disziplin lebend, verweilt er darin.
Mit Großzügigkeit gebend, hält er am Mitgefühl fest,
Und über Geduld meditierend,
Widmet er seine Tugend gänzlich der Erleuchtung der Wesen. [6:7] Den vollkommenen Bodhisattvas ergeben,
Geschickt auf den Wegen der Tiefgründigkeit und der Weite,
Wird er stufenweise die Bhumi der höchsten Freude erreichen
Daher sollten jene, die danach streben, von diesem Pfad hören.
Wenn wir also zu dieser Art von Schülern gehören, denen Tränen in die Augen schießen und denen die Haare am Körper erzittern, wenn sie diese Lehren über die Leerheit und den Mittleren Weg hören, dann erfüllen wir wirklich alle Voraussetzungen, um die vollständigen Belehrungen über die Leerheit der Person und die Leerheit der Phänomene zu erhalten. Wenn man hier nenauer ins Detail geht, dann kann man sagen, dass es drei verschiedene Arten an Schülern gibt. Drei Arten con Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und unterschiedlichen Bedürfnissen.
- Personen mit schlüssigen philosophischen Überzeugungen: zu diesem ersten Typus gehören Personen, die keine Buddhisten sind, aber einen anderen religiösen oder philosophischen Hintergrund aufweisen. Beispielsweise ein Angehöriger des Christentums, des Hinduismus oder einer anderen Religion. Sie können Madhyamaka-Unterweisungen erhalten . Man kann sie an Logik und Argumentation beteiligen, ihre Position zurückweisen und dann die Grundlage für Madhyamaka schaffen, so dass die dies dann praktizieren können. Allerdings räumt Rinpoche ein, dass es mitunter schwierig sein kann. Insbesondere bei Leuten, die durch die New-Age Bewegung beeinflusst sind, weil sie nicht notwendigerweise eine konsistente und kohärente Sichtweise haben. Vielmehr haben sie sich ein Mischmasch an Sichtweisen angeeignet. Wenn aber jemand eine kohärente Philosophie oder Religion vertritt, dann kann er auch im Madhyamaka unterrichtet werden.
- Anfänger: zum zweiten Typus gehören die Anfänger, also Personen ohne irgendeine Art an philosophischer Weltsicht. Für diese Menschen sollte aber trotzdem ein grundlegender moralischer Instinkt vorhanden sein, der sie von Fehlverhalten abhält. Bei diesen Personen beginnt man mit Lojong und Geistestraining, aber auch mit Shamatha und Vipassana und mit Bodhicitta. Wenn sie dann eine Grundlage in Studium und Praxis entwickelt haben, dann kann man sie in Madhyamaka unterrichten.
- Personen, die sich bereits der Madhyamaka-Familie zugehörig fühlen: die dritte Art von Schülern umfasst die, die schon in die Madhyamaka-Familie hinein erwacht sind. Diese Personen brauchen nicht durch logische Argumente überzeugt werden, da sie die Sichtweise bereits anerkennen. Für sie sind auch die grundlegenden Belehrungen nicht mehr erforderlich. Sie können direkt Unterweisungen zur Leerheit erhalten.
Vermeidung von Nihilismus und Eternalismus bei Studium und Praxis des Mittleren Weges
Rinpoche weist immer wieder darauf hin, dass es hier Fallstricke geben kann. Die Madhyamaka Lehren sind auch nicht für Personen geeignet, die keine gute Grundlage haben, denn so jemand könnte die Lehren allzu leicht missverstehen als Belehrungen zum Nihilismus. Mit anderen Worten: sie könnten Leerheit als eine Verleugnung des Selbst verstehen anstatt zu realisieren, dass das Selbst letztendlich jenseits von Existenz und Nichtexistenz, beidem oder keinem liegt und dass das relative Selbst als eine Art magische Erscheinung auftritt und funktioniert. Wie bereits in der vergangenen Weise besprochen haben viele Menschen die Belehrungen des Mittleren Weges als eine Form von Nihilismus aufgefasst, als diese im 19. Und 20. Jh. erstmals im Westen unterrichtet worden sind. Man glaubte, die Belehrungen über das Nicht-Selbst würden besagen, dass nichts existiert, was natürlich nicht gemeint ist. Wenn man aber keine ausreichend gefestigte Grundlage hat, wenn man keine ausreichende Praxiserfahrung in Achtsamkeit und Bodhicitta hat, dann besteht die Gefahr, in eine Art Depression zu verfallen wenn man hört, dass es keine Wahrheit gibt. Depression darüber, dass es kein Selbst gibt, dass es kein letztendliches Ziel gibt, dass das Leben letztendlich bedeutungslos ist. Das entspricht genau dem, was mit den Leuten geschah, die den Existenzialismus missverstanden haben. Da sie schlussfolgerten, dass es keine Wahrheit gibt, keinen Sinn des Lebens, dass Gott tot ist, kam es dazu, dass viele Existenzialisten nicht nur über Selbstmord schrieben, sondern auch tatsächlich Selbstmord begangen haben. Es ist also sehr wichtig, keine nihilistische Interpretation der Leerheit zu entwickeln.
Aber ins andere Extrem zu verfallen ist genauso gefährlich. Wir könnten zu Eternalisten werden. Wir könnten allzu großen Stolz auf unser Verständnis entwickeln. Das ist aber weniger wahrscheinlich. In Kapitel 2, Vers 3 geht es um die Bhumi zur Disziplin und dort findet sich ein Ausdruck, der hier ganz gut passt: wenn man sich in der Reinheit der eigenen Disziplin wähnt, dann ist es keine reine Disziplin.
[2:3] In der Reinheit seiner eigenen Disziplin zu verweilen,Wäre keine reine Disziplin.
Deshalb ist er hinsichtlich ihrer drei [Aspekte] jederzeit
Vollkommen frei von den Beschäftigungen des dualistischen Geistes.
Wenn wir eine Subjekt-Objekt-Beziehung hinsichtlich unserer Disziplin entwickeln, dann entwickelt sich auch Anhaftung und dann praktizieren wir nicht mehr Nicht-Dualität. Ich bin sicher, dass viele von Euch das Buch „Den spirituellen Materialismus durchschneiden“ von Chögyam Trungpa gelesen haben. Dabei geht es darum, dass unser Dharma Pfad leicht zu eine Beweihräucherung unseres eigenen Egos werden kann, wenn wir nicht aufpassen. Wir könnten Stolz entwickeln und uns mit der Vorstellung identifizieren, gute Praktizierende zu sein. Und dann haben wir uns weitere Hindernisse geschaffen, die wir wieder loswerden müssen.
Summa summarum ist es also wichtig, dass wir auf unserem Weg nicht nihilistisch werden, insbesondere wenn es um die Belehrungen über die Leerheit geht. Und genauso wichtig ist es, nicht eternalistisch zu werden. Man sollte darauf also sorgsam achten. Und wenn du zu der Art von Praktizierenden oder Schülern gehörst, die bei diesen Belehrungen so aufgeregt werden, dass die Haare am Körper erzittern, dann ist das ganz toll. Du solltest Dich aber nicht damit identifizieren. Womit du dich identifizieren solltest ist die Vorstellung, ein Bodhisattva zu sein, jemand, der über all dies hinausgeht. Erinnert euch, was wir zu Anfang gesagt haben: das Boot ist dazu da, den Fluß zu überqueren und nicht dazu, es für alle Zeit mit sich herumzuschleppen.
Praxis
Damit möchte ich nun zum Ende kommen und euch noch einen Rat von Rinpoche weitergeben. In Kapitel 6, Vers 8 geht es los mit Logik und Argumentation, und dann wird es richtig anspruchsvoll. Wenn wir wieder die Analogie zur Heldenreise heranziehen, dann ist das der Punkt, an dem wir die Schwelle von der gewöhnlichen Welt überschreiten und diese seltsame Welt von Abstraktion und Logik betreten und über die letztendliche (ultimative) Wahrheit diskutieren. Dies ist eine sehr hohe Schwelle und um sie zu überwinden, ist ein großer Schritt zu tun. Deshalb wird in den Shedras und Klöstern, in denen diese Belehrungen gegeben werden, traditionellerweise große Zeremonien abgehalten, bevor man mit Kapitel 8 beginnt. Rinpoche meint, dass es für uns äußerst günstig wäre, wenn wir es ähnlich halten würden. Deshalb möchte ich euch bitten, bis zur nächsten Woche wie folgt zu praktizieren: egal, was eure Praxis ist, widmet euch dieser Praxis mit dem ganz starken Wunsch, diese Belehrungen und den Rest von Kapitel 6 richtig zu verstehen, so dass ihr die Belehrungen richtig anwendet und dass es zur Erleuchtung aller Wesen beiträgt. Viele von euch haben mich darum gebeten, Praxismaterial auf der Website zur Verfügung zu stellen. Wenn ihr also auf die Praxisseite geht, dann findet ihr dort Material. Fühlt euch herzlich eingeladen, das zu nutzen. Ihr könnt auch das Herz-Sutra rezitieren oder auch das Mañjushri-Nama-Sagiti praktizieren. Außerdem habe ich auch Jamyang Khyentse Wangpo’s Anweisungen zur Mañjushri-Nama-Sagiti Praxis auf die Website gestellt. Aber auch wenn ihr etwas anderes praktiziert: egal, was ihr praktiziert, möchte ich euch ermuntern, in dieser Woche Verdienste anzusammeln, so dass ihr nächste Woche in der Lage sein werdet, die Schwelle zu überschreiten und euch auf unser Abenteuer einzulassen. Und damit möchte ich euch danken und euch eine wunderbare Woche wünschen. Wir sehen uns dann in der nächsten Woche wieder.
© Alex Trisoglio 2017
Übersetzt von Ulrike Bernauer