Alex Li Trisoglio
1. Einführung in die Betrachtungsweise des Mittleren Weges
Alex Li Trisoglio, 7. Juni 2017
Übersetzt von Ulrike Bernauer
Willkommen zur „Einführung in den Mittleren Weg“, sowohl an alle, die jetzt gerade teilnehmen und an eine viel größere Gruppe, die die Aufzeichnungen hören. Ich möchte damit beginnen, Euch allen für die Teilnahme zu danken und möchte hervorheben, dass es sehr vielversprechend ist, dass so viele von und an diesen Lehren interessiert sind.
Über 1450 Teilnehmer aus 54 verschiedenen Nationalitäten haben sich angemeldet und ich habe gedacht, was ist es für ein herrlicher Sommerabend und – wie Rinpoche häufig sagt, es gibt so viele andere Dinge, die wir tun könnten, und doch sind wir hier und hören diese sehr trockenen, akademischen Belehrungen. Und umso mehr gilt das für die, die in anderen Teilen der Welt am frühen Morgen oder mitten in der Nacht zuhören. Ich möchte mich bei Euch bedanken und ich sehe es als sehr vielversprechend, dass Ihr alle hier seid.
Zunächst ein paar organisatorische Bemerkungen: es ist möglich, Fragen zu schreiben, wie manche von Euch es bereits tun, aber da Ihr so viele seid, bin ich nicht sicher, wie viel ich während des Webinars selbst beantworten kann. Aber lasst Euch bitte nicht abhalten, Fragen zu stellen. Entweder hier oder auf der Website des Programms. Und das ist das Nächste. Die Website madhyamaka.com wird für die nächsten 8 Wochen unser wichtigste Kommunikationsmittel sein.
Ich möchte Euch alle ermuntern, die Website zu nutzen, wenn Ihr es noch nicht getan habt. Ich werde Aufzeichnungen, Downloads, jede Menge Lesestoff auf die Website stellen und es wird dort auch die Möglichkeit geben, Fragen zu stellen und es wird Diskussionsgruppen geben. Also nutzt das bitte. Und bitte gebt mir Feedback: lasst mich bitte wissen, was funktioniert und was nicht funktioniert und was Ihr sonst noch gerne auf der Website hättet.
Noch etwas zum Hintergrund, weshalb ich hier bin:, wenn ich Euch überhaupt etwas bieten kann, dann liegt das an Dzongsar Khyentse Rinpoche. Deshalb möchte ich gerne damit beginnen, Rinpoche dafür zu danken, dass er diese Gelegenheit ermöglicht und dafür, dass er mich dreimal in diesen Belehrungen unterrichtet hat. Ich habe diese Belehrungenin drei Vierjahreszyklen in Frankreich, San Franzisco und Australien erhalten. Und wenn ich dadurch imstande bin, Euch davon weiterzugeben, so ist das wegen ihm. Danke, Rinpoche. Es ist ein bisschen schwierig, mich vor meinem Lehrer niederzuwerfen, solange ich mit dem Headset verbunden bin, aber wenn Ihr Euch vorstellen könnt, das ich das mache, dann werde auch ich mir vorstellen, dass ich das mache.
Ich möchte auch diesen Lehren selbst meine Ehrerbietung erweisen, dem Madhyamakavatara. Das ist eine fantastische Belehrung über die Madhyamaka Betrachtungsweise, eine der bedeutendsten Mahayana Belehrungen und offen gesagt haben wir nur sehr wenig Zeit, durch diesen sehr großen Text zu gehen. Rinpoche hat über vier Jahre darüber gelehrt und er sagte, dass auch das ein Eiltempo war, verglichen mit dem Tempo, wie dies in den Shedras (tibetische Klosterschulen) gelehrt wird. Und gleichzeitig sind diese Belehrungen grundlegend und wirklich wichtig. Und nicht alle von uns haben die Zeit, 4 Jahre für diese Belehrungen aufzubringen. Und so wollte ich etwas anbieten, das kondensiert und hoffentlich auch verständlich ist, und wenn Interesse besteht, dann können wir sowohl über die Fragen und Antworten auf der Website als auch anschließend mit vertiefterem Studium noch tiefer gehen.
Dank auch an die, die die Befragung ausgefüllt haben. Vermutlich wenig überraschend: viele von Euch haben das Gefühl, dass Madhyamaka sehr schwierig sein kann, sehr akademisch, mit sehr wenig Bezug zum täglichen Leben. Das kann für uns problematisch werden: wenn wir einerseits hören, dass diese Belehrungen die Grundlage unseres Pfades und unserer Praxis bilden, und wenn sie andererseits etwas sind, das uns zu entfernt und schwierig erscheint, wie sollen wir das dann praktizieren ? Ich will Euch wirklich etwas anbieten, was praktisch und relevant ist. Wir werden also in den mittleren Wochen dieses Programms durch den Text gehen, die Logik, die Argumentation. Aber in den letzten beiden Wochen werden wir den Schwerpunkt auf die Praxis setzen und darauf, wie wir diese Belehrungen im Alltag anwenden können.
Es wird also hoffentlich zugänglich und praktikabel sein, aber ich bin mir nicht sicher, dass es leicht sein wird. Und das liegt nicht so sehr darin, dass diese Belehrungen selbst schwierig sind. Das liegt mehr daran, wie Rinpoche häufig sagt – dass diese Belehrungen gegenläufig zu unseren Gewohnheiten sind. Wir haben die tiefsitzende Gewohnheit, am Selbst und an den Phänomenen um uns herum zu haften. Und wenn wir diese Belehrungen studieren, die uns sagen, dass all diese Phänomene und das Selbst keine substanzielle Realität haben, dann kann es schwierig sein, das zu akzeptieren.
Die rationale Betrachtungsweise
Rinpoche erzählt öfter die Geschichte von einem Kind, das an einem Sandstrand spielt und eine Sandburg baut. Es geht völlig darin auf, diese Sandburg zu bauen, und dann fängt die Flut an, zu kommen. Das Kind ist total aufgebracht, als die Flut die Sandburg erst umspült und dann völlig zerstört. Wären wir die Eltern von diesem Kind, würden wir die ganze Situation anders sehen. Für uns wäre die Situation ein wunderbarer Tag am Strand, an dem wir mit dem Kind Sandburgen bauen, den augenblicklichen Moment genießen und uns voll und ganz bewusst sind, dass dieser Moment vorbeigehen wird, dass er unbeständig ist. Aber für das Kind existiert diese Erfahrung nicht. Aber dann, vielleicht ein bisschen später in unserem Leben, sagt Rinpoche, mögen wir Skateboards. Und in diesem Stadium, das ist das Interessante, haben wir unser Interesse an der Sandburg aufgegeben, und was nun auf einmal wichtig ist, ist das Skateboard. Und dann, ein bisschen später werden wir erwachsen, sprechen über unsere Häuser, unsere Karriere. Und noch ein bisschen später, vor der Rente, sagt Rinpoche, sorgen wir uns plötzlich um Tischdecken mit Spitzen und um Salzstreuer – das klingt für mich ein bisschen nach englischem Landhaus.
Der wesentliche Punkt hier ist, dass Verzicht – zumindest teilweise – natürlich ist. Es gibt eine bestimmte Art oder einen bestimmten Grad des Verzichts, der ganz natürlich geschieht, einfach indem wir älter werden oder wenn wir unser Leben entlanggehen. Und wir können auf unsere früheren Jahre zurückblicken und an all die Dinge denken, an denen wir als Kind angehaftet sind und erkennen, wie sehr wir als Kind daran gehangen haben, aber heute spielt das für uns alles keine Rolle mehr. Wir können die Substanzlosigkeit dieser Anhaftungen, ihre Vergänglichkeit, sehen. Und wir können sehen, dass die Sandburg, die wir gebaut haben, kein wirkliches, substanzielles Selbst, keine wirkliche Realität hat. Wir bekommen keine Anhaftung daran. Und das, würde ich sagen, ist eine rationale Art, über die Betrachtungsweise nachzudenken. Auf einer bestimmten rationalen Ebene wissen wir, dass das Selbst nicht wirklich da ist. Und in unseren nüchternen Momenten sind wir in der Lage, unsere Emotionen zu beobachten und unsere Reaktionen zu steuern, aber die meisten von uns werden doch von Zeit zu Zeit erschüttert. So wie ein Kind erschüttert ist, wenn es die Sandburg verliert, sind wir erschüttert, wenn wir etwas Wichtiges verlieren oder wenn etwas zusammenbricht, was wichtig für uns ist. Und auch wenn es rational ist, ist es nicht einfach zu praktizieren.
Betrachtungsweise jenseits der rationalen Betrachtungsweise
Aber was wir uns hier ansehen, ist noch mehr als das: das ist die Betrachtungsweise der Nicht-Dualität. Dies geht über das hinaus, was nur rational ist, hin zum eher Paradoxen, vielleicht ein bisschen Seltsameren. Ich möchte hier gerne ein paar Zitate nennen, um einen Vorgeschmack darauf zu geben:
Aus dem Herz-Sutra:
Form ist nichts anderes als Leere, und Leere ist nichts anderes als Form. Form ist identisch mit Leere und Leere ist identisch mit Form. Und so ist es auch mit Empfindung, Wahrnehmung, geistiger Formkraft und Bewusstsein. Alle Dinge sind in Wahrheit leer. Nichts entsteht und nichts vergeht. Nichts ist unrein, nichts ist rein. Nichts vermehrt sich und nichts verringert sich.
Jetzt ein anderes Beispiel, eine Geschichte aus Mumonkan (無門関, Die torlose Schranke), eine Sammlung von Zen-Geschichten. Diese hier heißt: Shuzan’s Shippei [kurzer Bambusstock].
Shuzan hielt seinen Shippei hoch uns sagte: „Wenn Du das einen Shippei nennst, dann lehnst Du seine Wirklichkeit ab. Wenn Du das nicht Shippei nennst, dann ignorierst Du die Tatsachen. Nun, wie möchtest Du das nennen ?
Das letzte Beispiel ist aus dem Vajracchedika Sutra (Diamant-Sutra), aus Abschnitt 21:
„Subhuti, behaupte nicht, der Tathagata hege die Vorstellung: ,Ich werde eine Belehrung geben’. Denke nicht in dieser Weise. Warum? Wenn jemand sagt, der Tathagata habe etwas zu lehren, so verleumdet diese Person den Buddha, denn sie versteht nicht, was ich sage. Subhuti, einen Dharma-Vortrag zu halten bedeutet in Wirklichkeit, dass kein Vortrag gehalten wird. Das ist wahrhaft ein Dharma-Vortrag.”
Wie sollen wir diese Dinge verstehen ? Es scheint paradox, Nonsense, vielleicht auch irrational. Und doch gibt es da irgendwie so eine Resonanz. Und doch ist es vielleicht einfach, anzunehmen, dass es nur poetisch und ausdruckvoll ist. Aber ich hoffe, dass Ihr am Ende der acht Wochen in der Lage seid, zu verstehen, was diese Zitate bedeuten und zu sehen, dass wirklich noch viel mehr in ihnen liegt.
Wie soll man Madhyamaka studieren ?
Hier ist eine weitere Geschichte, auch aus der Zen-Tradition. Sie heißt: „Eine Tasse Tee“, und viele von Euch kennen sie vielleicht:Nan-in, [ein Japanischer Zenmeister der Meiji-Ära (1868-1912)], empfing einen Universitätsprofessor, der ihn zu Zen konsultierte.
Nan-in servierte Tee.
Er füllte die Tasse seines Besuchers voll, und füllte dann weiter nach.
Der Professor beobachtete das Überlaufen, bis er sich nicht länger zurückhalten konnte. „Es ist randvoll, es geht nichts mehr hinein!“.
Nan-in sagte: „Wie diese Tasse, so bist auch Du voller eigener Meinungen und Vorstellungen. Wie kann ich Dir Zen-Unterweisungen geben, wenn Du nicht erst einmal Deine Tasse leerst?“
Das ist der bekannte Anfängergeist. Und wenn Ihr Madhyamaka studiert, dann solltet Ihr das mit demselben Anfängergeist anstreben. Und wie ich zuvor erwähnt hatte, ist das hart, denn es ist eine Herausforderung für unser Verständnis. Und auch wenn wir keine Universitätsprofessoren sind, sind unsere Tassen bereits voll, besonders im Hinblick auf unsere Vorstellungen vom Selbst. Und so möchte ich Euch für die nächsten Wochen ermuntern, dass ihr, wenn Ihr diese Belehrungen verfolgt, aufmerksam darauf achtet, wann Ihr etwas als schwierig empfindet. Wann fordert Euch etwas heraus ? Wann fühlt Ihr Euch gelangweilt oder müde und wann könnt Ihr Euch einfach nicht darauf einlassen ? Denn – wie Freud sagte – jede Langeweile kann ein Zeichen für Abwehr sein.
Noch ein bisschen allgemeiner: welche Art von Motivation sollten wir mitbringen, wenn wir diese Belehrungen hören ? Idealerweise sollten wir mit einer leeren Tasse anfangen. Aber traditionell, zum Beispiel in „Die Worte meines vollendeten Lehrers“ sprechen wir von drei verschiedenen Stufen der Motivation. In der niedrigsten Stufe beschäftigen wir uns mit den Belehrungen einfach aus Furcht vor dem Leiden und der Sehnsucht nach Glück. Auf der mittleren Stufe möchten wir für uns selbst das Nirvana erreichen. Auf der höchsten Stufe wünschen wir für alle fühlenden Wesen die vollkommene Erleuchtung. Ich möchte Euch dazu motivieren, den Belehrungen mit der höchstmöglichen Motivation zu folgen, auch wenn das in diesem Stadium nur intellektuell möglich ist. Und schließlich möchte ich Euch dazu motivieren, Euch diesen Belehrungen nicht mit einer engen akademischen Betrachtungsweise anzunähern. Wie Rinpoche sagen würde: es geht hier nicht darum, einen Doktortitel zu erlangen. Es geht hier nicht darum, besser zu debattieren oder zu argumentieren. Wir können die Betrachtungsweise in unsere eigene Praxis und in unseren eigenen Pfad integrieren. Und, wie Rinpoche ebenfalls sagte, wir werden auf viele verschiedene Behauptungen und viele verschiedene Gegensätzlichkeiten buddhistischer und nichtbuddhistischer philosophischer Schulen stoßen. Und auch wenn diese Schulen vor hunderten oder tausenden Jahren existierten und wir denken könnten, das wäre veraltet und nicht wichtig für uns, versucht Rinpoche uns klarzumachen, uns mit diesen Schulen zu beschäftigen, denn es geht in ihnen um eine Geisteshaltung, die Ihr in Euren eigenen Gedanken finden könnt. Beginnt damit, zu beobachten, wie Ihr Betrachtungsweisen annehmen könnt, die sich so schrecklich gegnerisch erscheinen. Wenn Ihr das in Eurem eigenen Leben anwenden könnt, für Euch selbst, dann wird für Euch viel mehr auf dem Spiel stehen. Das wird helfen.
Die Betrachtungsweise begreifen
Eine andere Sache, die Ihr vielleicht bemerkt habt, wenn Ihr Euch das Programm angesehen habt: ich habe für die acht Wochen Bilder aus den „Zehn Ochsen“ (十牛, Ten Ox-Herding Pictures) verwendet, die ursprünglich auch aus der Zen-Tradition stammen. Ich mag sie nicht nur wegen der Bilder und der Geschichten, vielmehr habe ich eine persönliche Beziehung dazu. Denn bevor ich irgendeinen lebenden Dharma-Lehrer kennengelernt habe, gehören diese Geschichten zu den ersten Dingen, die ich gelesen habe und so haben sie einen besonderen Stellenwert in meinem Herzen. Ich denke, sie pflanzten den Samen in mir, der mich zum Dharma führte. Und im zehnten Ochsenbild geht es um den Weisen auf dem Marktplatz, vergleichbar wo wir hinkommen werden, wenn wir unsere Betrachtungsweise nehmen und anschauen, wie wir sie im täglichen Leben anwenden können, bei unserer Arbeit und in unseren Beziehungen.
Aber wie beginnt die Geschichte ? Ich möchte Euch gerne den Text des ersten der zehn Gedichte vorlesen. Sie heißt: „Die Suche nach dem Ochsen“.
1. Die Suche nach dem Ochsen
In den Weiden dieser Welt, trete ich unaufhörlich das hohe Gras zur Seite auf der Suche nach dem Ochsen.
Entlang unzähliger Flüsse, verloren auf sich gegenseitig durchdringenden Wegen entfernter Berge.
Meine Kraft lässt nach und meine Vitalität ist erschöpft, ich kann den Ochsen nicht finden.
Ich höre einzig und allein die Geräusche der Heuschrecken in den nächtlichen Wäldern.
Falls Ihr das kenn: es gibt auch einen Kommentar von Kuòān Shīyuǎn, der Folgendes schreibt:
Der Ochse ist nie verlorengegangen. Wozu die Suche ? Nur aufgrund der Trennung von meiner wahren Natur gelingt es mir nicht, ihn zu finden. In der Verirrung der Sinne verliere ich auch noch die Spuren. Weit weg von zuhause sehe ich Wege sich kreuzen und weiß nicht, welcher der richtige ist. Ich bin verfangen in Gier und Furcht, gut und schlecht.
Für viele von uns ist das vielleicht eine vertraute Erfahrung. So ist die Verstrickung in Samsara. Wir sind auf der Suche nach Wahrheit, wahrer Natur oder nach dem Sinn des Lebens, wollen herausfinden, was uns antreibt, all das zu tun, was wir tun, was uns gefangen hält in Samsara. Was müssen wir begreifen, um für uns selbst und alle anderen Befreiung zu finden ? Diese Fragestellung, was es bedeutet und wie wir dahin gelangen können, die Wahrheit zu finden, bringt uns auf das Gebiet der Philosophie.
Philosophie
Ich würde gerne ein paar Worte über Philosophie ganz generell verlieren, bevor wir über Philosophie im Buddhismus sprechen, denn vieles in Madhyamaka dreht sich um Fragen wie „Was ist wahr ?“, „Was ist Wirklichkeit?“. Und dann natürlich die Frage „Wie sollen wir leben ?“Das Verständnis hier: wenn Du versuchst, einen Lebensweg zu gehen, der auf etwas Falschem oder Nichtwirklichem beruht, dann kann es vielleicht problematisch werden. Für diejenigen von Euch, die die Vorbereitungsunterlagen von George Orwell gelesen haben: er bringt es ganz schön auf den Punkt.
In der Philosophie wird die Vorstellung davon, was wahr ist, Epistemologie (Erkenntnistheorie) genannt: das Gebiet über Wissen, Einstellung, Rationalität, Überzeugung. Die westlichen und die buddhistischen Systeme über die Erkenntnis sind verschieden und in der indischen und buddhistischen Philosophie wird Tradition „pramana“ genannt, das bedeutet soviel wie stichhaltige Erkenntnis. Wir werden noch näher darauf eingehen, wenn wir durch einige der Debatten gehen. Und ganz besonders werden wir auf das Verständnis der großen buddhistischen Epistemologen Dignaga und Dharmakirti eingehen. Was sagten sie und wie wurden sie nachfolgend von ihren Kommentatoren interpretiert ? Einige der Interpretationen der grundlegenden Epistemologie, die zu großen Differenzen zwischen den Madhyamaka Schulen in Indien sowohl in Indien (dort erfolgte eine Trennung in Prasangika und Svatantrika) als auch später in Tibet führte (nachdem Madhyamaka in Tibet verbreitet wurde, entwickelten sich beispielsweise vier Schulen, die Dharmakirti unterschiedlich interpretierten).
Es gibt also ein großes historisches Element, das wir verstehen lernen und später werden wir auch die „Zwei Wahrheiten“ thematisieren und wieder wird Epistemologie den Kern unserer Konversation bilden. Ganz generell akzeptieren wir im Buddhismus, dass Wahrnehmung und Schlussfolgerung valide sind. Aber sind unsere Wahrnehmungen richtig ? Was, wenn sie falsch sind ? Wann können wir dem trauen, was wir sehen ? Es wird hier sehr oft um diese Dinge gehen.
Ich möchte nun ein bisschen auf die vielen Gemeinsamkeiten zwischen buddhistischen und westlichen philosophischen Traditionen eingehen. In den Vorbereitungsunterlagen habe ich Bertrand Russells „Geschichte der westlichen Philosophie“ vorgeschlagen.
Es ist ein wunderbares Buch und in seiner Einführung diskutiert er zwei wesentliche aber verschiedene Ansätze (zumindest in der westlichen Philosophie), über Wahrheit und Erkenntnis nachzudenken. Erst einmal haben wir die absolute Erkenntnis (in der Buddhistischen Tradition nennen wir das wahre Erkenntnis) und im Westen wäre das Wissenschaft. Wenn wir einen klaren Beweis haben, dann haben wir Fakten, wir können sehen, dass etwas da ist, weil wir es testen können. Das andere Extrem ist ein Dogma über das, was jenseits der absoluten Erkenntnis ist. Traditionell war Letzteres der Bereich der Religion, die nicht durch Beweise funktioniert. Häufig wird die Frage gestellt: „Ist Buddhismus eine Religion ? Ist Buddhismus eine Philosophie? Wo steht der Buddhismus ? Und heutzutage würden manche auch fragen: Ist Buddhismus eine Wissenschaft ? Für die, Donald Lopez in den Vorbereitungsunterlagen gelesen haben: da gibt es eine interessante Frage: Inwieweit sollte man unter wissenschaftlichen Aspekten über Buddhismus nachdenken ?
Bertand Russell sagt, dass es zwischen Wissenschaft und Dogma eine Grauzone gibt, ein großes Niemandsland, in dem uns Wissenschaft keine Antworten bieten kann und wo, nach seinen Worten, die zuversichtlichen Antworten der Theologen nicht länger überzeugend wirken. Er listet viele klassische philosophische Fragen, eine davon ist wichtig für uns:
„Gibt es eine Art zu leben und eine, die geringerwertig ist ? Oder sind alle Wege, zu leben, nutzlos ? Wenn es einen Weg zu leben gibt, der edel ist, worin besteht er ? Wie können wir ihn erreichen ?“
Oder als Beispiel:
„Muss das Gute ewig sein, um damit es Wertschätzung verdient ? Oder ist das Gute es wert, gesucht zu werden, auch wenn das Universum unaufhaltsam dem Tod zustrebt ?“
„Gibt es so etwas wie Weisheit oder ist das, was als Weisheit erscheint, letztendlich nur eine Verfeinerung von Verrücktheit ?“
Das sind klassische Fragen. Einen anderen, den ich mag, ist Sokrates, der zu fragen pflegte: Was ist gut für die Stadt und den Menschen ?
Philosophie im Buddhismus
Auch als Buddhisten stellen wir uns diese Fragen. Wir wollen Gutes tun. Der achtfache Pfad wird auch der Edle genannt, der Pfad für die Edlen. Undgenau wie die alten Griechen, wollen wir lieber auf der edlen Seite leben als auf der unedlen. Und gleichermaßen ist unser Bestreben als Mahayana-Buddhisten das Streben nach Bodhicitta. Wir wollen sowohl den relativen als auch den ultimativen Nutzen für alle Wesen. Aber was ist gut ? Woher sollen wir das wissen ? Und wenn wir über den achtfachen Pfad nachdenken, über den wir unterrichtet worden sind, wie wissen wir, dass er richtig ist ?
Im Buddhismus wollen wir nicht auf generelle philosophische Spekulationen oder über Metaphysik einlassen. Der Buddha hatte eine berühmte Unterredung mit Malunkyaputta, der zehn Fragen zur Metaphysik gestellt hatte, wie: ist das Universum ewig (1) oder nicht (2). Ist es begrenzt (3) oder unbegrenzt (4) ? Ist die Seele Dasselbe (5) wie der Körper oder getrennt vom Körper (6) ? Existiert der Tathagat nach dem Tod (7) oder nicht (8), oder beides (9) ? Oder keines (10), d.h. ist er gleichzeitig existent und nicht-existent ?). Und hier erzählte der Buddha die Geschichte von einem Mann, der von einem vergifteten Pfeil verwundet war, um zu verdeutlichen: sieh her, ich spekuliere nicht. Ich möchte keine Zeit auf solche Fragen verwenden:
„Stell Dir vor, Malunkyaputta, ein Mann wurde durch einen vergifteten Pfeil verwundet und seine Freunde und Verwandten bringen ihn zu einem Chirurgen. Stell Dir nun vor, der Mann sagt: „Ich möchte nicht, dass dieser Pfeil entfernt wird, bis ich weiß, wer ihn auf mich geschossen hat; ob es ein Ksatriya war (Kriegerkaste), oder ein Brahmane (Priesterkaste), oder ein Vaisya (Kaste der Kändler und Landwirte), oder ein Sudra (niedere Kaste). Wie sein Name lautet, aus welcher Familie er stammt, ob er groß oder klein oder mittelgroß ist. Ob seine Hautfarbe schwarz, braun oder golden ist. Aus welchem Dorf oder aus welcher Stadt er kommt. Ich möchte nicht, dass dieser Pfeil herausgezogen wird, bis ich weiß, von welcher Art Bogen er abgeschossen wurde, wie die Bogensehne gemacht war, welcher Pfeiltyp verwendet wurde, welche Art Federn für den Pfeil verwendet wurden und aus welchem Material die Pfeilspitze gemacht war. „ Malunkyapatta, dieser Mann würde sterben, ohne diese Dinge zu wissen. Und ebenso, Malunkyapatta, werde ich kein heiliges Leben führen, wenn ich darauf warte, dass der Gesegnete solche Fragen beantwortet wie: ist das Universum ewig, etc. ? Er würde sterben, ohne dass der Tathagata diese Fragen beantwortet hätte.
[MN 63]
Und so ist es wirklich wichtig, wenn wir über die Philosophie nachdenken, dass wir auf Fragen fokussiert bleiben, die und zur Befreiung führen, als lediglich zu spekulieren.
Im Buddhismus wissen wir, woran wir interessiert sind. Wir können zurückgehen zu den vier edlen Wahrheiten: Leiden, die Ursache von Leiden, Vergehen und der Pfad. Und ganz besonders sind wir interessiert an der zweiten Wahrheit, der Ursache des Leidens. Wir wissen, dass Begierde der Ursprung des Leidens ist, aber worauf beruht diese Begierde ? Wir wissen, dass sie auf der Anhaftung am Selbst beruht, aber verstehen wir das auch wirklich ? Das wird das Kernstück unserer Untersuchungen bilden. Und schließlich werden wir zu der Schlussfolgerung gelangen, dass das Anhaften am Selbst auf der falschen Betrachtungsweise des Selbst beruht. Es geht nicht darum, das Selbst zu verleugnen. Und es geht auch nicht darum, ein reales Selbst zu haben, von dem wir glauben, dass wir es irgendwie bestrafen müssen, wie die alten Hindu-Asketen, sondern dass das ein Fehler ist.
Was ich weiter sagen möchte: wenn Rinpoche darüber sprach, warum wir Madhyamaka studieren sollten, dann sagte er, dass es ebenso wichtig ist, eine Art Führungssciene für unsere Praxis zu haben. Ein paar Begründungen:
(1) Es ist großartig, Hingabe und Inspiration zu haben und wir sollten es immer anstreben, durch unsere Praxis inspiriert zu werden. Aber, wie Rinpoche sagt, Emotionen sind unbeständig. Wir mögen uns an einem Tag großartig fühlen, aber dann, vielleicht nach ein paar Wochen, ist uns nicht mehr nach Praxis. Wir verlieren unsere Inspiration. Zu solchen Zeiten brauchen wir etwas, das uns bei der Stange hält. Wir brauchen etwas, das uns führt und leitet. Wir brauchen die Betrachtungsweise.
Und wie Rinpoche ebenfalls sagte: die frühen Zeiten der Einführung des Dharmas in den Westen, in die moderne Welt, sind nun vorbei. Der Dharma befindet sich in einer sehr andersartigen und sehr komplexen Umwelt. Es gibt so viele verschiedene Schulen, die gleichzeitig im Westen gelehrt werden. Und gleichzeitig trifft der Dharma auf die westliche Psychologie, auf Selbsthilfe und alle Arten der New-Age Bewegung. Und dazu kommt nun im Westen, dass die Menschen den Dharma neu interpretieren und nach säkularem Buddhismus fragen. Müssen wir den Buddhismus für die moderne Welt „updaten“ ? Wie Rinpoche sagt: es ist sehr schwierig, zu erkennen, worauf wir vertrauen sollen. Für all das brauchen wir die Betrachtungsweise.
Die Betrachtungsweise (Sichtweise)
Lasst und nun ein bisschen über die Betrachtungsweise sprechen. In dieser ersten Folge wollte ich darüber sprechen, was die Betrachtungsweise ist und warum sie so wichtig ist. Zunächst einmal: was ist die Betrachtungsweise ?
Grundsätzlich ist die Betrachtungsweise eine Art und Weise, die Welt zu sehen, eine Geschichte, eine Geisteshaltung, eine Reihe von Annahmen, vielleicht auch eine Perspektive. Vielleicht eine Theorie, vielleicht eine Geschichte, die wir erzählen. Es gibt ein paar klassische Beispiele, wie das von der Schlange und dem Seil. Angenommen, wir sehen ein gestreiftes Seil auf dem Boden und wissen nicht genau, was es ist. Vielleicht ist der Raum dunkel, vielleicht ist es dämmrig. Vielleicht haben wir ein bisschen Angst. Und dann könnten wir missinterpretieren: Unsere Betrachtungsweise könnte sein, das wir das, was in Wirklichkeit ein Seil ist, für eine Schlange halten. Und auf Basis dieser falschen Betrachtungsweise reagieren wir. Wir erschrecken uns, vielleicht laufen wir schreiend aus dem Raum. Und erst später, wenn wir das Licht anmachen, sehen wir, dass wir uns geirrt haben. Die Betrachtungsweise – in diesem Fall die Betrachtungsweise, dass da eine Schlange ist anstelle eines Seils, bedingt unser Verhalten. Unsere Betrachtungsweise, unsere Geisteshaltung bestimmt das Verhalten.
Ein anderes Beispiel, das Rinpoche häufig verwendet, sind Leute wissen wollen, was schön ist. Vielleicht lesen sie ein Schönheitsmagazin. Vielleicht lesen sie die „Vogue“ und verbringen ihre Zeit damit, die Artikel und Bilder zu studieren und darüber nachzudenken, bis sie eine Vorstellung davon haben, was schön ist. Und dann setzen sie all ihre Bemühungen daran, so auszusehen, wie es ihrer Vorstellung nach schön ist. Und hier funktioniert es genauso (wie eigentlich alles): wir gehen von einer Betrachtungsweise aus, egal ob wir wissen oder nicht, dass wir eine Betrachtungsweise haben. Wir haben unsere Vorstellungen und unsere Handlungen sind von unserer Sichtweise getrieben. Auch in der westlichen Psychologie kennt man das, der kognitive Ansatz in der Psychologie basiert darauf. Freud sprach vom Eisberg. Er sagte, man muss sich eine Person wie einen Eisberg vorstellen, von dem man nur einen kleinen Teil über der Wasseroberfläche sieht (der Teil, den wir nach außen hin wahrnehmen: das Verhalten), aber im Inneren geht so viel mehr vor, sowohl bewusste, als auch unbewusste Dinge.
Die Definition für Betrachtungsweise lautet: „Eine bestimmte Art und Weise, etwas ins Auge zu fassen, zu betrachten; eine Haltung oder Meinung. Synonyme: Meinung, Standpunkt, Gesichtspunkt, Glaube, Wertung, Denken, Vorstellung, Idee, Überzeugung, Glaubensrichtung, Haltung, Befinden, Gefühl, Konzept, Hypothese, Theorie.
Betrachtungsweise im Buddhismus
In der relativen Welt gibt es viele Betrachtungsweisen, wie das Beispiel von der Schlange und dem Seil oder das von der Schönheit gezeigt haben. Aber die Betrachtungsweise, die für Buddhisten eine wesentliche Rolle spielt, ist die Betrachtungsweise des Selbst, da diese – wie gesagt – die Wurzel für Samsara ist. Weil wir die Vorstellung haben, dass das Selbst real existiert, ist es irgendwie „wahr“, ist es der wichtigste Bezugspunkt in unserem Leben. Davon ausgehend konstruieren wir Vorstellungen von „Ich“ und „mein“, Subjektivität und Objektivität. Und dann verstricken wir uns in die zwölf Glieder des abhängigen Bestehens, in Hoffnung und Furcht, und dann leiden wir. Die Betrachtungsweise – und in diesem Fall die Betrachtungsweise der Ignoranz, nämlich die Vorstellung, dass da ein „Selbst“ ist, treibt alles an und bildet die Ursache für unsere Handlungen. Und letztendlich – gemäß der Überlieferung – treibt das auch unsere Wiedergeburt in Samsara an. Das ist es, was wir entwurzeln müssen.
Auf einer mehr relativen Ebene stellt Rinpoche häufig die Frage: wie können wir erkennen, dass wir Fortschritte darin machen, die richtige Betrachtungsweise zu erkennen ? Und dann spricht er über die acht weltlichen Dharmas und das sind:
• Wunsch nach Glück / Furcht vor Leid
• Wunsch nach Ruhm / Furcht vor Bedeutungslosigkeit
• Wunsch nach Lob / Furcht vor Tadel
• Wunsch nach Profit / Furcht vor Verlust
Im Prinzip handelt es sich dabei um Anhaftung und Ablehnung. Für die meisten von uns erscheinen diese Extreme sehr weit voneinander entfernt. Wir rennen wirklich dem Glück hinterher und vor dem Leiden davon, wir hoffen wirklich auf Profit und fürchten den Verlust. Und wenn wir damit anfangen können, diese Gegensätze auszugleichen, dann ist das ein Zeichen dafür, dass sich unsere Betrachtungsweise manifestiert und internalisiert.
Das ist die grundlegendste Betrachtungsweise, die wir in allen buddhistischen Schulen, auch im Theravada, finden. Aber im Madhyamaka gehen wir über die Betrachtungsweise des Selbst oder der Person hinaus, aber auch über jegliche andere Betrachtungsweise und über jegliche Betrachtungsweisen, die wir über Phänomene haben. Hier kommen wir wieder zu der Frage, was wir unter Schönheit verstehen. Was bedeutet Erfolg ? Was bedeutet es, die vielen Dinge z tun, die wir im Leben tun ? Und wir wollen verstehen, wir wollen zeigen – und wir werden zeigen – dass all diese Sichtweisen von Phänomenen kein wirkliches Wesen haben, dass sie keine Basis haben. Was aber nicht bedeutet, dass sie für uns nicht real sind. Was nicht bedeutet, dass sie uns nicht antreiben. Soll aber heißen, dass sie für uns nicht wesentlich sind.
Der Ursprung unserer Betrachtungsweisen
Wenn Du Dich selbst fragst: wo lerne ich diese Dinge ? Woher kommt meine Vorstellung von Schönheit ? Woher kommt meine Vorstellung davon, was es bedeutet, erfolgreich im Leben zu sein ? Wo habe ich gelernt, was es bedeutet, ein guter Freund zu sein, oder ein guter Elternteil oder ein guter Sohn ? Für viele von uns kommen diese Vorstellungen aus Bereichen, über die wir nie wirklich nachgedacht haben. Von unserer Familie, unserer Kindheit, unserer Erziehung, unserer Gesellschaft, vielleicht auch von unseren Facebook Freunden. Wir analysieren die Herkunft unserer Vorstellungen nicht. Wir wissen nicht unbedingt einmal, dass wir diese Vorstellungen haben, aber trotzdem beeinflussen sie uns.
Dazu noch ein anderes Zitat von Bertrand Russell:
„Seit die Menschheit fähig ist, frei zu spekulieren, hängt ihre Aktivität in vielerlei Hinsicht von ihren Theorien über die Welt und das menschliche Leben ab, sowohl was gut, als auch was böse angeht. Das gilt heute und war auch früher so. Um ein Zeitalter oder eine Nation zu verstehen, müssen wir seine Philosophie verstehen, und um seine Philosophie zu verstehen, müssen wir selbst zu einem gewissen Grad Philosophen sein. Und hier liegen einander bedingende Ursachen vor: die Gegebenheiten im menschlichen Leben bestimmen zu einem großen Teil die Philosophie, aber umgekehrt hat die Philosophie einen großen Einfluss auf die Umstände.“
Vieles, was wir untersuchen werden ist zu verstehen, wo unsere Betrachtungsweisen herkommen. Und wir werden lernen, unsere Betrachtungsweisen leichter zu nehmen. Lernen zu sehen, dass unsere Vorstellungen doch nicht so solide sind, wie wir gedacht haben. Zurück zum Kind mit der Sandburg: vielleicht hält das Kind wirklich mit einer sehr soliden Vorstellung von der Sandburg fest, die es bauchen möchte, wie sie aussehen muss. Aber wenn wir älter werden, haben wir gelernt, diese Vorstellung fallenzulassen.
Verzerrte Sichtweisen und fehlerhafte Landkarten
Der Kurs wird uns helfen, ein bisschen zu verstehen, wo unsere Sichtweise verzerrt ist. Wo ist unsere Betrachtungsweise fehlerhaft ? Wo sind unsere Weltkarten unvollständig ? Ich betrachte gerne mittelalterliche Landkarten aus den frühen Tagen der Entdeckungsreisen, z.B. aus dem 15. oder 16. Jahrhundert. Oft sieht man Karten, in der der Entdecker, der Macher der Karte nicht so richtig sicher ist, was da in einer Ecke ist oder vor sich geht und hat dann hingeschrieben: „Hier gibt es Drachen“. Und im alten Rom gab es dasselbe Phänomen bei den römischen Kartenmalern, nur dass sie schrieben: „Hier gibt es Löwen“. Ich mag diese Vorstellung, dass wir Angst haben, wenn wir mit etwas konfrontiert werden, worüber wir nicht sicher sind oder wenn wir etwas richtig verstehen. Oft geraten wir in Panik. Vieles von dem, was wir in den kommenden Wochen studieren, geht nicht nur darüber, die richtige Betrachtungsweise herzustellen, sondern auch darüber, zu verstehen, in welcher Hinsicht unsere Sichtweisen verzerrt und unvollständig sind.
Und in der Tat, Chandrakirti baut die “Einführung in den mittleren Weg” (Madhyamakavatara) so auf, dass man durch all die Wege geht, über die unsere Betrachtungsweise fehlgeleitet wird. Und dann, in einem Prozess der Beseitigung, kommen wir schließlich zur richtigen Betrachtungsweise, der Sichtweise des mittleren Wegs.
Betrachtungsweise und Praxis
Nun kommen wir zum Verhältnis von Sichtweise und Praxis. Rinpoche spricht oft über Betrachtungsweise, Meditation und Handlung (oder Verhalten) und darüber, wie diese drei miteinander verbunden sind. Und wie wir ja gesehen haben: unsere Sichtweise bestimmt die Handlung. Obwohl es – wie Rinpoche sagt – für einige von uns auch umgekehrt sein kann. Wenn wir praktizieren, dann starten wir nicht notwendigerweise mit der Sichtweise, aber durch unsere Praxis werden wir beginnen, Erkenntnisse über die Natur der Phänomene und über die Natur unseres Selbst zu gewinnen und dann führt uns unsere Praxis zur Sichtweise. Vielleicht wisst Ihr, dass das tibetische Wort für Meditation gom (Wyl: sgom) lautet, was so viel bedeutet wie: „sich gewöhnen an“. Und was soll das bedeuten ? Wie können wir das verstehen ?
Dazu möchte ich gerne eine Unterscheidung von Chris Argyris einführen, einem Harvard Professor, der an der Harvard Business School unterrichtet hat. Er unterscheidet zwischen dem, was wir glauben (er nennt das die „Espoused-Theorie“ (die unterstützte Theorie)) und dem, was unsere Handlungen antreibt, das nennt er die „Theory-in-use“ (die angewandte Theorie)). Nehmen wir ein Beispiel: wir könnten beispielsweise sagen: „Ich weiß, dass Rauchen schlecht ist. Die Leute sollten nicht rauchen. Ich denke, ich sollte nicht rauchen.“ Das wäre nun die unterstützte Theorie, aber trotzdem könnte ich rauchen. Also ist mein tatsächliches Verhalten nicht konsistent mit meiner unterstützten Theorie. Meine unterstützte Theorie stimmt nicht mit meiner angewandten Theorie überein. Es gibt also zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen und über die sprechen wir hier. Es gibt eine Sichtweise, die wir anstreben, eine Sichtweise, die es zu verwirklichen gilt, und dann gibt es eine Sichtweise, die im Augenblick das antreibt, was wir tun.
Und das Gleiche gilt im Buddhismus. Der Pfad, die Praxis ist darauf angelegt, die Lücke zu schließen zwischen der Sichtweise, die wir erreichen wollen und der momentanen Sichtweise, die unsere Handlungen antreibt. Traditionell sprechen wir zunächst darüber, die Sichtweise herzustellen, was in der Sprache von Argyris soviel bedeutet wie: eine unterstützte Theorie etablieren. In unserem Fall ist die Sichtweise Nichtdualität – die Leerheit einer Person von einer Eigennatur und die Leerheit der Phänomene von Eigennatur. Doch selbst wenn die meisten von uns acht Wochen damit verbracht haben, die richtige Sichtweise zu etablieren und uns selbst davon zu überzeugen, dass die wahr und richtig ist, macht es Sinn, was unsere Meister uns erzählen, nämlich dass wir praktizieren müssen. Wir müssen an der Sichtweise arbeiten, bis wir sie inkorporiert haben, solange bis es diese wahre und richtige Sichtweise ist, die unsere Handlungen bestimmt.
Wohldurchdachte Praxis
In der modernen westlichen Psychologie sind wir zu der Vorstellung von 10 000 Stunden Praxis (Sitzungen) gekommen. Das ist es, was es wirklich braucht, um Meisterschaft zu erlangen: eine Sichtweise und eine Praxis wirklich zu internalisieren und Meisterschaft darin zu erlangen. Hier ist noch eine wichtige Unterscheidung zu machen: wenn man beispielsweise ein guter Tennisspieler, ein guter Schachspieler oder ein guter Musiker werden möchte sieht man, dass all die Eliten in diesen Disziplinen viel Zeit zum Üben aufwenden. Hier ist aber essenziell, dass ihr Üben, ihre Praxis eine „wohldurchdachte Praxis“ ist – eine Begrifflichkeit, die durch den Psychologen Anders Ericsson geprägt worden ist. „Wohldurchdacht“ bedeutet hier, dass wir nicht z.B. auf dem Tennisplatz nicht nur so herumspielen, einen Ball herumschlagen. Vielmehr sind wir darauf bedacht, an unserer Rückhand oder unserer Vorhand arbeiten und die richtige Technik anwenden. Wir praktizieren die korrekte Sichtweise, wie wir den Ball schlagen wollen. Es ist nicht die Praxis, die uns perfekt macht, sondern es ist perfekte Praxis, die uns perfekt macht.
Für unsere buddhistische Praxis gilt dasselbe. Es ist wichtig für uns, die Praxis so gut wir können auf die Sichtweise zu stützen, denn wenn wir ohne die richtige Sichtweise praktizieren, dann ist das wie bei einem Tennisspieler, der auf dem Tennisplatz den Ball planlos herumschlägt. So wird es schwierig, das Spiel zu gewinnen. Ich möchte uns alle ermutigen, darüber nachzudenken, dass das wichtig ist, wenn wir kontemplieren wollen. Wenn Ihr über Eure gegenwärtige Praxis nachdenkt, wenn Ihr über Eure Handlungen und über Euer Verhalten in der Welt nachdenkt, dann fragt Euch selbst: „was treibt mich an ? Was beeinflusst die Art und Weise, wie ich über meine Praxis nachdenke ? Wie nähere ich mich da an ? Welche Sichtweise habe ich im realen Leben ? Was ist meine „angewandte Theorie“ und wie unterscheidet sie sich von der Sichtweise der Leerheit ? Und mit jeder Praxis, sei es nun Zufluchtnahme, das Praktizieren von Boddhicitta, Ngöndrö, Achtsamkeit oder seien es Vajrayana Praktiken, all diese müssen wir auf die Sichtweise der Leerheit aufsetzen.
Erleuchtung ist Verwirklichung der Sichtweise
So, das ist ein genereller Überblick über die Sichtweise. Warum ist die Sichtweise wichtig ? Weil unsere Sichtweise unsere Handlung bestimmt und weil wir letztendlich unser Verhalten nicht ändern können, wenn wir nicht unsere Sichtweise ändern. Die Sichtweise dirigiert alles. Wie Rinpoche sagt: sie ist die Basis. In anderen Worten würde er sagen: eine andere Möglichkeit darüber zu sprechen, wie man Erleuchtung erlangt ist darüber zu sprechen, wie wir die wahre Sichtweise verwirklichen. Anders ausgedrückt: Die korrekte Sichtweise ist vollständig verwirklicht, wenn es keinen Unterschied mehr gibt zwischen unserer unterstützten und unserer angewandten Theorie. Dann ist die korrekte Sichtweise vollständig internalisiert. Praktisch ist das eine andere Art; über Erleuchtung zu sprechen. Diese Sichtweise ist es, über die wir in den kommenden acht Wochen sprechen werden, sie ist sehr wichtig und zwar unmittelbar wichtig für die Erleuchtung selbst.
Die gute Nachricht ist, dass es nicht so kompliziert ist wie für einen Chirurgen, der alle anatomischen Details lernen muss oder für einen Anwalt, der so viele Details der Gesetze kennen muss. Die einzige Sache, die für uns wichtig ist, ist die Sichtweise der Leerheit oder Nicht-Dualität, die Sicht des Mittleren Weges. Aber auch wenn das sehr einfach klingt, ist es doch eine verdammt harte Sache, weil es ziemlich heftig gegen unsere eigenen Gewohnheiten und gegen die Konventionen der Gesellschaft geht.
Die Sichtweise in den Belehrungen des Buddha
Wenn ihr Rinpoches erstes Buch „Warum Sie kein Buddhist sind“ gelesen habt, wisst ihr, dass er die Sichtweise im Kontext der vier Dharma Siegels darstellt. Die vier Dharma Siegel bilden die Mahayana-Version der drei Kennzeichen der Existenz: „Dukkha“ (Leiden), Anicca (Vergänglichkeit) und Anatta (Nicht-Selbst). Das vierte Siegel besteht darin, dass Nirvana jenseits der dualistischen und nichtdualistischen Extreme liegt. Diese drei oder vier Siegel bilden die einfachste Skizzierung der Sichtweise. Wir werden den Schwerpunkt insbesondere auf das Siegel oder Kennzeichen des „Nicht-Selbst“ setzen, das die Grundlage aller buddhistischen Schulen bildet. In diesen acht Wochen werden wir erkunden, was „Nicht-Selbst“ bedeutet, wir das verstehen und in unserer Praxis und in unserem täglichen Leben anwenden können.
Was das nun mit Buddhas Lehrzyklus zu tun hat: vielleicht seid ihr vertraut mit der Vorstellung, dass der Buddha das Dharma-Rad dreimal gedreht hat (d.h. drei Lehrzyklen gelehrt hat).
- Die erste Umdrehung fand im Hirschpark statt. Die Zuhörer waren Shravakas (Hörer) und der Buddha lehrte die Vier Edlen Wahrheiten und den Rest des Tripitaka (Palikanon).
- Die zweite Umdrehung fand am Geierscharberg statt, zu einer Zuhörerschaft, die aus Boddhisattvas und Arhats zusammengesetzt war. Hier unterrichtete der Buddha die Leerheit. Madhyamaka ist eine Belehrung aus dem zweiten Drehen des Dharmarads und umfasst Prjnaparamita, das Herz-Sutra und all die Werke von Nagarjuna und aus dem Rest der Madhyamaka-Tradition.
- Die Belehrungen der dritten Umdrehung fanden in Shravasti und an anderen Orten statt, die Zuhörer waren Boddhisattvas. Der Buddha gab Unterweisungen zur Buddha-Natur, die in Verbindung mit der Maitreya-Tradition stehen.
Leerheit und Buddhanatur
Eine andere Frage, auf die wir in den bevorstehenden acht Wochen antreffen werden ist, wie wir verstehen können, welcher dieser drei Lehrzyklen die ultimative Lehre des Buddha ist und welche nur vorläufig.
Beispielsweise sagt der Buddha in manchen seinen Belehrungen Dinge wie „In einem meiner vorherigen Leben, als ich ein Tier war….“ und verwendet diese Formulierung, um eine Geschichte zu erzählen und anzudeuten, dass da in einem vergangenen Leben ein reales Selbst war. Das würde man eine vorläufige Belehrung nennen, weil wir im zweiten Dharmazyklus lernen, dass das Selbst nicht wirklich existiert. Schwierig wird es nun bei dem zweiten und dritten Lehrzyklus, wenn wir den Zusammenhang zwischen Leerheit und Buddhanatur verstehen wollen. Zu Beginn hatten wir das Zitat aus dem Diamant-Sutra, in dem sogar der Buddha sagt: „Es gibt keinen Buddha“. Wie sollen wir all diese Dinge verstehen ?
Rinpoche sagt, diese Frage über Leerheit und Buddhanatur ist sehr wichtig, da wir – wenn wir die Belehrungen zur Buddha-Natur missverstehen – leicht in eine Sichtweise geraten können, die dem Hindu-Verständnis von einer Art universellem Selbst, universellem kosmischem Geist (bzw. Seele, Bewußstein) ähnelt, vergleichbar dem Atman. Und das ist nun eine Gegenposition, die wir aufgeben sollten. Wir werden auch Einblick gewinnen, wie unterschiedlich die verschiedenen Schulen diese drei Dharmazyklen verstehen und werden sehen, was wir davon lernen können.
Warum der Name „Mittlerer Weg“ ?
Ein paar von Euch wundern sich vielleicht, warum es heißt „Der Mittlere Weg“. Es gibt zwei Möglichkeiten, darüber nachzudenken. Das ursprüngliche Verständnis, das aus der Theravada-Tradition stammt ist das, dass der Buddha einen Mittelweg zwischen den Extremen Luxus und vollkommene Verstrickung in weltliche Angelegenheiten einerseits und auf der anderen Seite Askese und Selbstkasteiung gelehrt hat. Wie viele vielleicht aus seiner Lebensgeschichte wissen, waren die ersten Lehrer, denen der Buddha anhing, bevor er Erleuchtung erlangte, Lehrer, der alten indischen asketischen Tradition (darunter Alara Kalama und Uddaka Ramaputta). Ihre Praktiken bestanden größtenteils aus Fasten und langen Meditationsretreats mit dem Ziel, das Selbst zu besiegen, in dem man es aushungerte. Der Buddha erkannte aber, dass ihn das nicht zur Erleuchtung führte, dass das nicht der richtige Pfad war.
Nach wie vor gilt diese Auffassung, aber im Madhyamaka versteht man unter mittlerem Weg auch die Auffassung, extreme Sichtweisen zu vermeiden. Was wäre so eine extreme Sichtweise ? Das wären Eternalismus und Nihilismus. Wir werden lernen, was diese Begriffe bedeuten. Im Wesentlichen bedeutet Eternalismus, dass etwas existiert, zum Beispiel, dass das Selbst existiert, dass Phänomene existieren, dass Sandburgen wirklich existieren. Nihilismus bedeutet, dass nichts existiert, dass nichts eine Rolle spielt, keine sich um etwas kümmert. Rinpoche sagt manchmal, dass die rechte Sichtweise manchmal fälschlicherweise mit der Auffassung der französischen Existenzialisten verglichen wird.
Wenn wir sagen „Mitte“, dann bedeutet diese Mitte nicht ein Zwischending zwischen Gut und Böse. Vielmehr werden diese Extreme vollkommen transzendiert. Wenn wir also über den Mittleren Weg sprechen, dann heißt das nicht, dass wir an ein paar Tagen gut handeln und an ein paar Tagen schlecht handeln und dann einen Durchschnitt bilden. Es geht vielmehr darum, in erster Linie über jegliches Verständnis von Gut und Böse hinauszugehen. Was bedeutet das ? Wie könnte das aussehen ?
Verantwortung für seine Sichtweise und Praxis übernehmen
Ich möchte auch ein bisschen darüber sprechen, wie wichtig es ist, für uns selbst die richtige Sichtweise herzustellen. Viele der Pali-Sutren gehen darüber, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.
Der Buddha sagte:„Man ist seine eigene Zuflucht. Wer sonst sollte die Zuflucht sein ?“
[Dhp, XII 4]
und:„Du solltest Deine Arbeit tun, die Thatagatas lehren nur den Pfad“.
[Dhp, XX 4]
Das bedeutet soviel wie dass kein anderer uns befreien kann. Wir müssen uns selbst befreien. Aber wenn wir das tun, müssen wir auch für die Sichtweise, auf die wir uns stützen, ein Bewusstsein und ein Verständnis entwickeln. Wir müssen ebenso sehr persönliche Verantwortung für unsere Sichtweise übernehmen wie auch für unsere Handlungen. Es gibt noch ein anderes berühmtes Sutra, das Kalama Sutra, in dem Leute aus dem Kalama Clan den Buddha fragen: „Warum sollten wir Deinen Belehrungen trauen ?“ und der Buddha antwortete:Lasst Euch nicht durch Berichte, Tradition oder Hörensagen leiten. Lasst Euch nicht leiten durch die Autorität religiöser Texte, nicht durch reine Logik oder Schlussforlgerung, nicht durch Erscheinungen, noch durch Freude an spekulativen Meinungen, nicht durch scheinbare Möglichkeiten oder durch die Vorstellung „Das ist unser Lehrer“. Aber, o Kalamas, wenn Ihr für Euch selbst erkennt, dass bestimmte Dinge unheilsam und falsch sind und Ihr diese aufgebt und wenn ihr für Euch selbst erkennt, dass bestimmte Dinge heilsam und gut sind, dann akzepiert dies als Lehre und befolgt sie.
[AN 3.65]
Die Vorstellung hier ist vor allem, dass wir dem Madhyamaka nicht folgen sollen, indem wir die Belehrungen als Anweisung verstehen, als eine Art heiligen Text, dessen Gebote wir zu befolgen haben. Vielmehr sollen diese Belehrungen etwas sein, dass wir überprüfen und dann anwenden sollten in dem wir so lange praktizieren, bis wir die Essenz der Belehrungen internalisiert haben.
Ein anderes berühmtes Zitat des Buddha lautet:„Akzeptiert meine Worte nicht, indem ihr mir glaubt.
Glaubt sie nicht, nur weil ich sie gesagt habe.
Seid wie ein Analytiker, der Gold kauft.
Er schneidet, brennt und analysiert das Produkt ganz kritisch auf Echtheit.
Akzeptiert nur, was den Test besteht,
indem es sich als nützlich und dienlich für euer Leben erweist.“
Und es gibt eine weitere Belehrung, die sich auf die vier Bereiche des Vertrauens bezieht:„Vertraut der Belehrung, nicht der Person.
Vertraut der Bedeutung, nicht den Worten.
Vertraut der letztendlichen Bedeutung, nicht der vorübergehenden.
Vertraut eurem Weisheitsgeist, nicht dem gewöhnlichen Geist.“
Das ist eine andere Art auszudrücken, dass wir es wirklich anstreben und hart daran arbeiten sollten, die rechte Sichtweise für uns selbst zu verstehen und zu internalisieren. Denn wenn wir in unserem Alltag sind oder wenn wir sitzen und praktizieren, dann können wir nicht gleichzeitig Belehrungen hören oder Bücher lesen, um Antworten zu bekommen. Wir müssen genau dann, im entscheidenden Moment wissen, was zu tun ist. Und um zu wissen, was zu tun ist, müssen wir die rechte Sichtweise internalisiert haben. Wir müssen die rechte Sichtweise ständig mit uns haben. Sie muss vollständig in uns sein, nicht die von jemandem anderen. Nicht etwas, das wir gehört haben. Nicht etwas, das wir gelesen haben, sondern eine Sichtweise, die wir internalisiert haben. Und ich möchte euch wirklich dazu ermuntern, euch diesem Studium und diesen Belehrungen auf diese Art und Weise anzunähern.
Nicht an der Sichtweise haften
Gleichzeitig sagte der Buddha auch, dass wir an diesen Belehrungen nicht hängen sollen. Ja, wir sollen sie internalisieren, aber sie sind auch etwas, das war wieder loslassen sollen. Er sagte:„O Bhikkus, auch wenn diese Sichtweise so rein und so klar ist, wenn ihr daran anhaftet, dann verhätschelt ihr sie. Wenn ihr sie aufbewahrt, dann haftet ihr daran, dann versteht ihr nicht, dass es sich ähnlich wie mit einem Boot verhält, dass dazu da ist, den Fluss zu überqueren und nicht ständig mit sich herumzutragen.“
[MN 22.13]
Das Gleiche trifft auf die Madhyamaka Belehrungen zu. Wir sollten uns diesen Belehrungen in dem Verständnis annähern, dass sie uns auf die andere Seite bringen, nicht um eine komplexe Philosophie über uns selbst zu konstruieren. Und in der Tat, wenn wir durch diese Belehrungen durchgehen, dann werden wir erkennen, dass es nicht so sehr darum geht, etwas Neues zu konstruieren, sondern dass es vielmehr darum geht, unsere Verwirrung und unsere falschen Sichtweisen aufzugeben.
Und das gilt auch für die Vernunft selbst. Rinpoche spricht oft von der Reise von irrational zu rational zu jenseits von rational. Ja, wir wissen, dass wir uns nicht auf irrationale Überzeugungen, auf Verwirrung und falsche Sichtweisen verlassen wollen. Also bedienen wir uns der Rationalität, wenn wir Madhyamaka studieren, wir bedienen uns der Logik und der Analyse, um unsere falschen Sichtweisen zurückzuweisen und zu bezwingen. Aber diese Art der Annäherung – logisch und rational – ist wie ein Boot, um den Fluss zu überqueren. Denn der Ort, wohin wir gehen werden – das geht aus den eingangs erwähnten Zitaten aus dem Herz-Sutra und dem Diamant-Sutra zur Nondualität hervor – ist jenseits von Rationalität. Jenseits des Denkens. Er ist jenseits von Sprache, Ausdruck, Unterredung.
Und gleichzeitig werden wir nicht in die Irrationalität zurückverfallen. Stattdessen werden wir – genauso wie wir auch jenseits aller dualistischen Vorstellungen gehen werden – sowohl Rationalität als auch Irrationalität transzendieren, um ein Herz des Verstehens zu erlangen. Diese Reise wird manchmal ein bisschen paradox sein, weil wir viel Zeit darauf verwenden werden, unsere Logik, Begründungen und Gegenargumente aufzubauen, um dann letztendlich sowohl unsere Irrationalität als auch unsere Rationalität aufzulösen.„Im Moment, in dem Sich zwei Blasen vereinen, verschwinden beide. Ein Lotus blüht.“
(Kijo Murakami, 1865-1938).
Praxis macht 98 % der Reise aus
Rinpoche stellt es anders dar. Er sagt: Ja, die Sichtweise ist essenziell – sie zu aufzubauen und zu studieren. Wir brauchen sie, sie ist die Basis. Aber dann sagt er auch: „Bilde Dir ja nichts ein, Du wirst nirgendwohin gelangen, wenn Du nur Deine Sichtweise aufbaust. Das, was Du am allermeisten brauchst, ist Praxis. 98 % unserer Reise ist Praxis.“ Aber wie zuvor gesagt, die Praxis selbst muss auf der richtigen Sichtweise beruhen, denn sonst wirr Dich der Weg in keine gute Richtung führen.
Meine Hoffnung für alle von Euch ist, dass wir lernen können, den Dharma zu internalisieren. Uns von einer externen Autorität wegzubewegen (also von den Belehrungen, die außerhalb von uns selbst existieren) und zu einer inneren Autorität zu gelangen, eine inneres Madhyamaka, eine innere Nondualität, auf die wir uns beziehen können und die wir immer bei uns haben. Rinpoche scherzt oft und sagt: wäre es nicht wunderbar, wenn wir im Buddhismus einfache Regeln und Gebote hätten, wie in anderen Religionen. Zum Beispiel, fünfmal am Tag zu bestimmten Uhrzeiten zu beten oder nur Socken zu tragen oder nie Bratkartoffeln zu essen, oder so ähnlich. Ja, wir können solche Regeln haben und diese Regeln können leicht zu befolgen sein, aber wir werden hoffentlich erkennen, dass so ein Regel-basierter Ansatz vollkommen verschieden ist von dem, was wir hier machen. Weil sich unsere Sichtweise viel weiter ausdehnen kann. Wir wollen keinen solchen Satz an Regeln. Wir wollen ein grundlegendes Verständnis für das Selbst – oder noch mehr auf den Punkt gebracht – wir wollen das Fehlen der ultimativen Existenz des Selbst verstehen und das wird dann alle unsere Handlungen bestimmen.
Das ist also meine Hoffnung für Euch für die nächsten acht Wochen: dass Ihr die rechte Sichtweise versteht und dass ihr versteht, wie Ihr sie in der Praxis anwenden könnt. Nicht um Euch Anweisung in neuen Praktiken zu geben, sondern um Euch eine neue Perspektive auf eure bisherige Praxis zu geben. Und um ein Gespür dafür zu entwickeln, was die rechte Sichtweise bedeutet und wie man sie in der Welt leben kann, in der Postmeditation, bei der Arbeit, in Familie, in Beziehungen. Und auf der gefühlsmäßigen Ebene: wie kann die rechte Sichtweise zu unserem Freund werden ? Wie können wir eine Vertrauensbasis zu unserer Sichtweise entwickeln und sie als Gefährten, Führer, Unterstützung heranziehen, als etwas, worauf wir so richtig vertrauen können ? Also wirklich Freundschaft zu schließen mit der Sicht. Das ist ein anderer Aspekt, den ich mit ins Spiel bringen möchte.
Ich würde sagen, dass es schon eine große Herausforderung ist, dass Buddhismus in der westlichen Welt falsch verstanden wird, weil viele Menschen keine Freundschaft mit der rechten Sichtweise geschlossen haben. Sie sehen das als angsteinflößend, die sehen Drachen Und im Ergebnis hören wir viele Belehrungen, die darum gehen, wie man achtsam läuft, eine sanfte Sprache benutzt und sich achtsam verhält, die aber nicht wirklich auf die Sichtweise gestützt sind.
Also vielen Dank. Diese Belehrung wird auf die Website gestellt und ich möchte Euch ermutigen, die Website für Ankündigungen und alle anderen Dinge zu nutzen. Nächste Woche werden wir durch die ersten 5 Kapitel von Chandrakirti’s Madhyamakavatara (Einführung in den Mittleren Weg) gehen. Ich möchte Euch ermuntern, den Text vorab zu lesen , wenn möglich. Wir sehen uns dann nächste Woche wieder.
© Alex Li Trisoglio 2017
Übersetzt von Ulrike Bernauer
Page last updated July 9, 2017